Der Ursprung des Bösen
er.
Anaïs schluckte die beiden Pillen und spülte mit Cola nach. Als sie dem Zwerg die Dose zurückgeben wollte, war der bereits in der Dunkelheit verschwunden.
»Sieh es als Geschenk des Hauses. Ciao!«, rief er noch.
Anaïs fuhr im strömenden Regen weiter. Schon glaubte sie zu spüren, wie das Dopamin in ihrem Kopf wirkte. Sie schaltete hoch und fuhr in Richtung der A 61. An der ersten Tankstelle tankte sie voll. Als sie an der Kasse die belegten Brötchen und Teilchen sah, stellte sie fest, dass sie keinen Hunger hatte. Die Droge wirkte wie ein Appetitzügler. Umso besser. So würde sie sich mit allen Sinnen konzentrieren können.
Sie legte einen Kavaliersstart hin und beobachtete gleichzeitig das Display ihres iPhone. Die Widerlinge hatten inzwischen den D2202 verlassen und fuhren auf ein Dörfchen namens Carros zu. Wo mochten sie hinwollen? Hatten sie Freire etwa gefunden?
Sie schaltete in den fünften Gang und stellte fest, dass sie schon jetzt die zweihundert Stundenkilometer überschritten hatte. Der kleine Smart war im Augenblick ihr bester Verbündeter.
Die Nacht war noch jung.
N arcisse blickte auf den Umschlag in seiner Hand.
»Wie viel ist es?«
»Fünfundvierzigtausend Euro.«
Er sah Corto verblüfft an.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du in Paris einen Riesenerfolg hattest. Die meisten deiner Bilder gingen für etwa viertausend über den Tisch, und es gab davon etwa dreißig. Die Galerie erhielt ihren Anteil von ungefähr fünfzig Prozent, und wir haben für unsere Ausgaben noch einmal fünfzehn Prozent genommen. Dir bleiben die fünfundvierzigtausend. Als Maler bist du absolut in. Wenn du nur wolltest, könntest du wieder zu Narcisse werden und dir einen sehr annehmbaren Lebensunterhalt verdienen.«
Narcisse öffnete den Umschlag und spähte hinein. Die Geldscheine glänzten wie Seide.
»Ich glaube nicht, dass ich malen könnte wie Narcisse.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
Er antwortete nicht. Tatsächlich war er tief im Innern überzeugt, dass sich sein Talent ebenso wie die Kenntnisse in Psychiatrie durch seine verschiedenen Persönlichkeiten zog. War es für ihn tatsächlich möglich, wieder Narcisses Karriere aufzunehmen? Nein, er hatte Wichtigeres zu tun. Er musste seine Bilder finden, sie genau betrachten und eingehend studieren. Irgendwo, dessen war er ganz sicher, hatte sich unbewusst ein Hinweis auf die Wahrheit eingeschlichen – sozusagen die Signatur seiner ursprünglichen Persönlichkeit.
»Was glauben Sie«, fragte er, während er das Geld in die Tasche steckte, »wie viel Zeit mir dieses Mal bleibt? Ich meine, bis ich mein Gedächtnis wieder verliere?«
Sie standen im Garten. Es war dunkel geworden, und der Wind frischte auf. Die Bäume bogen sich, als lägen sie in Krämpfen. Zwar hatte Narcisse an diesem Tag vergeblich geforscht, doch jetzt war er reich, hatte gegessen und fühlte sich wieder frisch. Er hatte die Pause gebraucht, um neue Kräfte zu sammeln.
»Schwer zu sagen«, antwortete der Psychiater. »In dieser Hinsicht gibt es keine Regeln. Aber du darfst nie vergessen, dass jede Veränderung eine Art Flucht ist. Die Antwort auf ein Trauma. Deine Krisen haben auch mit dem zu tun, was du Tag für Tag erlebst.«
Dem stimmte Narcisse zu. Und doch hatte er Angst vor der schlimmsten aller Hypothesen, nämlich, dass er ein Mörder war und nach jedem Mord die Identität wechselte. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Nein – er glaubte nicht an seine Schuld.
Langsam gingen sie zwischen den Terrassen der Gärten bergab. Der Himmel war klar, dunkelblau und funkelte vor Sternen. Der Geruch der Pinien betörte alle Sinne. Der Psychiater bog nach rechts ab. Sie erreichten einen Kakteengarten. Noch nie hatte Narcisse so viele Kakteen auf einmal gesehen. Kakteen in der Erde, Kakteen in Töpfen, Kakteen in Gewächshäusern. Manche sahen aus wie in Watte eingepackte Seeigel, andere waren mehr als zwei Meter hoch, und wieder andere breiteten Arme aus wie Kandelaber.
»Riechst du das?«
»Was?«
»Die Düfte.« Corto holte tief Luft. »Es ist ein Ruf, bei dem unser gesamter Körper erwacht. Das Gleiche geschieht, wenn wir das Meer sehen. Das Wasser in uns fängt an zu beben. Du bist abends oft hierhergekommen.«
Narcisse fragte sich, worauf der Psychiater hinauswollte.
»Ich nehme an, du hast Jung gelesen.«
»Habe ich.«
Narcisses Antwort kam ohne das geringste Zögern.
»Laut Jung wird unser Bewusstsein – oder eher unser Unbewusstsein – von Urbildern aus
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