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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nackt und gefesselt hinter einem Schreibtisch und war in einem entsetzlichen Zustand.
    Anaïs streifte Latexhandschuhe über und schloss die Tür. Die Verrückten waren ihr gefolgt. Sie versuchte, das Geschehen zu rekonstruieren.
    Die Mörder waren gegen 21.00 Uhr angekommen und hatten die beiden Pfleger aus nächster Nähe mit einem Kaliber .44 oder .45 erschossen. Danach hatten sie sich mit dem Mann beschäftigt, der vermutlich der Direktor der Anstalt gewesen war. Anaïs konnte sein Alter kaum einschätzen, vermutete aber, dass er die sechzig überschritten hatte. Er war stark entstellt. Man hatte ihm die Augen zerquetscht, die Nase war nur noch eine blutige Höhle. Durch die zerfetzten Wangen erkannte sie übel zugerichtetes Zahnfleisch und offene Wunden dort, wo man ihm die Zähne ausgerissen hatte. Der Kopf baumelte nach rechts – wahrscheinlich war irgendwo im Nacken etwas gebrochen.
    Ob er wohl geredet hatte? Unter einer solchen Folter würde wahrscheinlich jeder auspacken. Warum sollte ausgerechnet ein älterer, hagerer Psychiater den Helden gespielt haben? Und doch gab es immer wieder mutige Menschen, wie alle Kriege bewiesen. Im Übrigen war der gesamte Raum durchsucht und verwüstet worden, was wiederum darauf schließen ließ, dass die Arschlöcher keine Antwort auf ihre Fragen bekommen hatten.
    Anaïs wunderte sich über ihre Ruhe und ihre Kaltblütigkeit. Die Barbarei, die sie hier sah, brannte zwar in ihren Augen, berührte aber nicht ihr Herz. Es war wie ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Nächtelang hatte sie sich ausgemalt, was ihr Vater mit den politischen Gefangenen in Chile wohl angestellt haben mochte. Jetzt sah sie die Wirklichkeit in Fleisch und Blut vor sich.
    Als Anaïs die Trümmer und die heruntergefallenen Bücher betrachtete, wusste sie, dass sie hier nicht weiter zu suchen brauchte. Die Besucher hatten nichts zurückgelassen. Der Computer auf dem Schreibtisch war gewaltsam geöffnet worden. Die Festplatte hatten die Männer mitgenommen, ebenso alle wichtigen Akten.
    Anaïs überlegte. In einem früheren Leben musste Freire hier gelebt haben – in einer Einrichtung für geistig Behinderte. War er nach seiner Flucht aus Nizza auf der Suche nach einem Zufluchtsort hierher zurückgekehrt? Zumindest hatten die Mörder es geglaubt. Oder vielleicht gewusst? Ob jemand sie informiert hatte? Aber wer? Ein Pfleger? Ein Patient? Falls Freire sich aber tatsächlich im Haus aufgehalten hatte, waren sie offenbar zu spät gekommen. Sie hatten den Direktor zur Rede gestellt und sich dafür viel Zeit genommen. Anaïs wusste, dass sie vier Stunden in der Klinik verbracht hatten. Vier Stunden reinster Folter.
    Sie zog ihr iPhone aus der Tasche und schaltete die Ortung ein. Die Kerle fuhren in Richtung Paris und passierten gerade die Stadt Lyon. Wussten sie, was Freire vorhatte? Sie steckte ihre Waffe wieder ein und beschloss, sich noch kurz in den anderen Gebäuden umzusehen, ehe sie sich ebenfalls auf den Weg machte.
    Die Durchsuchung des Anbaus brachte keine besonderen Erkenntnisse. Offensichtlich arbeitete man hier hauptsächlich mit Kunsttherapie, denn sie fand eine komplette Etage mit Ateliers, die die unterschiedlichsten Werke beherbergten. Die Verrückten folgten ihr noch immer. Sie schienen zu hoffen, dass sie sich um sie kümmern würde, aber da irrten sie. Anaïs fühlte sich beinahe wie eine von ihnen.
    Als sie die Kantine zum zweiten Mal durchquerte, bemerkte sie die Gruppenfotos an der Wand. Auf dem vom vergangenen Jahr erkannte sie Freire sofort. Er trug einen Künstlerkittel. Zum ersten Mal sah sie ein ehrliches Lächeln auf seinen Lippen. Wie süß er doch aussah!
    Plötzlich legte sich ein schmutziger Finger auf Freires Gesicht. Anaïs erschrak. Es war der Pierrot mit den schwarz umränderten Augen.
    »Narcisse«, flüsterte er und tippte mit dem Finger auf das Foto. »Narcisse. Narcisse! Er ist weggegangen!«
    »Wann?«
    Der Pierrot schien mühsam nachzudenken. Mit seinen hervorquellenden Augen erinnerte er an Robert Smith, den Sänger von The Cure.
    »Gestern«, presste er schließlich hervor.
    Sie riss das Foto von der Wand und steckte es ein. Sie musste verhindern, dass man wieder eine Verbindung zwischen ihrem Schützling und dem erneuten Massaker herstellte. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Crosnier hatte ihr erzählt, dass Freire sich in der Unterkunft in Marseille »Narcisse« nannte. Was das sein neuer Name? Eine frühere Identität aus seiner Zeit in der Villa Corto?
    Eilig

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