Der Ursprung des Bösen
rannte sie zu ihrem Auto, ohne die Irren zu beachten, die ihr nachliefen. Als sie startete, hätte sie beinahe einen von ihnen überfahren. Während ihr Wagen den Weg entlangholperte, kreiste nur ein Gedanke in ihrem Kopf: Dass dieses Blutbad stattgefunden hatte, musste bedeuten, dass Freire noch lebte. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie sich darüber freute, und bekreuzigte sich instinktiv im Andenken an den alten Direktor und die beiden Pfleger.
Im Rückspiegel sah sie, dass einige Insassen ihr immer noch nachliefen. Nein, sie brachte es einfach nicht übers Herz, die armen Kerle sich selbst zu überlassen.
Sie griff zum Handy und tippte auf die Kurzwahl einer eingespeicherten Nummer.
»Crosnier?«
D ie Gemälde mit ihren Linien, Noten und Notenhälsen mit Fähnchen sahen aus wie Musikpartituren. Die Linien waren nicht gerade, sondern schlangen sich in Wellen um Köpfe, Gestalten und Symbole, die in diesen Kreis aus Musik eingedrungen zu sein schienen.
Narcisse beugte sich vor, um die einzelnen Elemente besser erkennen zu können. Ein Mann mit Maske. Delfine. Spiralen. Das Ganze schien eine dem Maler enthüllte Kosmogonie in Ocker zu sein. Auf den weißen Wänden der Galerie glühten goldfarbene Gemälde wie riesige Ikonen.
»Nicht anrühren, Sie Unglücksrabe. Das sind Wölflis.«
Narcisse drehte sich um. Ein Mann in einem grauen, perfekt zu seiner Haarfarbe passenden Anzug kam auf ihn zu. Um die sechzig, Markenbrille, gepflegte Erscheinung, Narcisse lächelte ihn an. An diesem Morgen hätte er jeden angelächelt. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass er es tatsächlich geschafft hatte, bis hierherzukommen – nach Paris, in die Galerie Villon-Pernathy, Rue de Turenne 18 an der Grenze zum Marais-Viertel.
Am Vorabend war er am Ende des Waldes auf eine Landstraße gestoßen; bereits nach kurzer Zeit kam ein Lastwagen. Narcisse hatte den Daumen gehoben, und der Fahrer hatte tatsächlich angehalten. Er lieferte Kunstharzteile nach Aubervilliers in der Nähe von Paris und war gern bereit, ihn mitzunehmen, wenn er ihn im Gegenzug von Zeit zu Zeit am Steuer ablösen würde. Etwas Besseres hätte Narcisse nicht passieren können. Sie waren die ganze Nacht hindurch gefahren und hatten zwischen Schlummer und Wachen das Lenkrad und die eine oder andere Bemerkung getauscht.
Um sechs Uhr morgens hatte Narcisse sich an der Porte de la Chapelle in der Metro wiedergefunden. »Erinnerung« wäre ein zu starkes Wort gewesen, aber er fühlte sich hier zu Hause. Er kannte nicht nur die Metrolinien, sondern auch die Namen und Viertel und konnte sich sofort orientieren. Nachdem er sich eine Fahrkarte gekauft hatte, nahm er die Linie 12 in Richtung Mairie d’Issy. Er sah die einzelnen Stationen vorüberhuschen und konnte noch immer nicht fassen, dass er wieder einmal davongekommen war. Aber für wie lang? Wie hatten die Totengräber ihn gefunden? Würden sie die Villa durchsuchen? Oder den Leiter ausquetschen? Er würde es wohl nie erfahren.
An der Madeleine war er ausgestiegen und zu Fuß die Rue Royale hinaufgegangen. Der Umschlag mit dem Geld in seiner Tasche beruhigte ihn fast noch mehr als die Glock im Gürtel. An der Place de la Concorde war er nach rechts ausgeschert und hatte eines der luxuriösesten Hotels der Stadt aufgesucht: das Crillon. Damit verband er zwei Absichten. Erstens würde man in einem solchen Palast nicht gleich nach seinen Papieren fragen, denn bei diesen Preisen zeigte man sich in aller Regel diskret, und zweitens glaubte er, dass das Crillon so ungefähr der letzte Ort war, wo man nach einem vermeintlichen Obdachlosen auf der Flucht suchen würde.
Narcisse hatte behauptet, seine Brieftasche verloren zu haben, und die fast tausend Euro für sein Zimmer im Voraus bezahlt. Außerdem hatte er sich verpflichtet, am nächsten Tag die Verlustmeldung zu präsentieren. Das Personal am Empfang hatte beim Anblick seines zerrissenen Jacketts nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Aus einer spielerischen Laune heraus hatte er Namen und Adresse von Mathias Freire angegeben. Jetzt fürchtete er sich nicht mehr. Seit er die Metro betreten hatte, war ihm klar, dass ihn hier in Paris niemand suchte. Dinge, die in Bordeaux oder Marseille als nationale Katastrophe galten, gingen im Pariser Trubel unter.
Als er in seinem Hotelzimmer duschte, stellte er fest, dass er an den Fünfsterneluxus gewöhnt zu sein schien. Die Ermittlungsakte hatte er im Safe verstaut. Alles war wie in einem Traum. Er war den Mördern
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