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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Schatten, Bewegungen und Abstufungen zwischen Hell und Dunkel waren fein gestrichelt.
    Die Zeichnung stellte einen Mord dar.
    Einen Mord, der sich unter einer Seine-Brücke abspielte – Pont d’Iéna oder Pont Alexandre III.
    Der Mörder stand triumphierend über einem nackten Körper. In der einen Hand hielt er eine Axt, mit der anderen schwenkte er ein Stück Fleisch. Narcisse näherte sich dem Monitor und betrachtete das Beutestück. Es waren Geschlechtsorgane. Der Mörder hatte sein Opfer entmannt. Unwillkürlich suchte er nach der rituellen Bedeutung dieser Geste und versuchte sich zu erinnern, ob es in der Mythologie eine Kastrationsszene gab. Doch es gelang ihm nicht.
    Der Grund dafür lag im Gesicht des Mörders.
    Das Gesicht war asymmetrisch und verzog sich nach rechts zu einer hässlichen Fratze. Ein Auge war rund, das andere nur ein Schlitz. Der Mund war zu einem scheußlichen Lachen aufgerissen und zeigte unregelmäßige Zähne. Das Schlimmste aber begriff er nur nebelhaft: Auch hier handelte es sich um ein Selbstporträt. Dieser Mörder war er selbst.
    »Wollen Sie das andere Bild auch sehen?«
    »Zeigen Sie es mir«, sagte er mit einer Stimme, die er kaum noch erkannte.
    Das andere Bild zeigte die gleiche Szene, allerdings einige Sekunden später. Der Mörder, der mit grausam präzisen Federstrichen dargestellt war, warf die Organe in den schwarzen Fluss, während er in der anderen Hand noch immer die Axt schwenkte. Narcisse stellte fest, dass es sich bei der Waffe um ein primitives Werkzeug handelte, das aus einem angeschliffenen Feuerstein, Lederschnüren und Holz bestand.
    Er wich zurück, bis er die Wand berührte, und schloss die Augen. Fragen brüllten so laut in seinem Schädel, dass sie alles andere übertönten. Wie viele Obdachlose hatte er auf dem Gewissen? Warum hatte er es auf Penner abgesehen? Warum hatte er sich selbst mit dieser verzerrten, hässlichen Fratze dargestellt?
    Verzweifelt riss er die Augen auf. Er fürchtete, ohnmächtig zu werden. Die Röntgenassistentin beobachtete ihn. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Jetzt bemitleidete sie ihn. Sie hatte keine Angst mehr um sich selbst, sondern um ihn.
    »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
    Gerne hätte er geantwortet, doch er brachte es nicht fertig. Mit zitternden Fingern wickelte er die beiden Gemälde in das Tuch und verschnürte sie mit der Kordel zu einem Paket.
    »Machen Sie mir Abzüge und stecken Sie sie in einen Umschlag«, stieß er schließlich mühsam hervor.
    Wenige Minuten später verließ er die radiologische Praxis wie ein Roboter. Er lief mit dem Gefühl, gleich hinzufallen, ohnmächtig zu werden oder sich aufzulösen. Der Himmel über ihm schien einzustürzen. Dicke Wolken rollten auf ihn zu.
    Er senkte den Blick und bemühte sich, sein Gleichgewicht zu wahren.
    Die beiden Mörder in Schwarz standen ihm gegenüber.
    Mit wehenden Mänteln kamen sie auf ihn zu, die Hände bereits am Gürtel.
    Er ließ die Bilder fallen. Griff nach der Glock in seinem Rücken.
    Er schloss die Augen und drückte mehrmals ab.

A naïs sah die Flamme aus der Mündung der Automatikwaffe explodieren.
    Sie ließ sich auf den Bürgersteig fallen. Erneut wurde geschossen. Sie richtete sich auf. Passanten hatten sich auf den Boden geworfen, Autos waren ineinandergekracht. Menschen flüchteten. Wieder knallte es. Sie glitt zwischen zwei Autos hindurch und streckte den Kopf hinaus. Auf der Fahrbahn lag einer der Mörder. Er war tot. Sie fragte sich, ob es Verletzte gab – irgendwelche Kollateralschäden. Das Wort erschien ihr absurd, aber es war ihr plötzlich eingefallen.
    Es war ihr unmöglich zu schießen. Überall rannten Leute herum, überall standen Autos. Irgendwann entdeckte sie Narcisse vor einer Apotheke. Auge in Auge mit dem zweiten Mörder. Beide hielten ihre Waffe im Anschlag. Sie schubsten sich, um die Schüsse abzulenken, trampelten auf den Gemälden herum und versuchten sich gegenseitig zu Fall zu bringen. Es sah aus wie ein ungeschickter Catchkampf.
    Wieder ertönte ein Schuss. Eine Scheibe ging zu Bruch. Glassplitter regneten auf die beiden Kontrahenten hernieder. Narcisse glitt auf einem Umschlag mit Röntgenbildern aus. Er fiel nach hinten und riss seinen Gegner im Fallen mit. Beide zielten immer noch aufeinander. Sie verschwanden hinter einem Auto. Anaïs konnte nur noch ihre Füße sehen, die sich wild bewegten. Überall wurde geschrien. Die Leute duckten sich und klammerten sich aneinander wie auf einem

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