Der Ursprung des Bösen
Origami-Technik gefaltet aussah. Was mochten diese absurden Selbstporträts verbergen?
Die Arzthelferin öffnete die Tür und ließ ihn in eine enge Kabine treten, die auf der anderen Seite eine weitere Tür hatte.
»Ziehen Sie sich bitte aus. Sie werden dann gleich hineingerufen.«
Narcisse schloss sich ein und wartete, ohne auch nur das Jackett abzulegen. Seine Bilder lagen auf der Bank. Kaum eine Minute später wurde die zweite Tür von innen geöffnet.
»Sie sind ja noch nicht ausgezogen«, stellte die Frau im Röntgenraum trocken fest.
Narcisse schätzte sie mit Blicken ab. Eine dunkelhaarige Frau in weißem Kittel, aber stark geschminkt und mit hohen Absätzen. Einerseits Wissenschaft und Strenge, auf der anderen Seite eine sinnliche weibliche Ausstrahlung.
Er entschied sich für die sanfte Methode.
»Mein Anliegen ist ein wenig ungewöhnlich«, sagte er lächelnd. »Ich will diese beiden Gemälde röntgen lassen und …«
»Unmöglich«, schnitt ihm die Röntgentechnikerin das Wort ab. »Unsere Geräte sind dafür nicht geeignet.«
»Aber so etwas ist gängige Praxis. In den Laboratorien des Musée de France macht man …«
»Tut mir leid. Sie haben sich in der Adresse geirrt.«
Sie schob ihn in die Kabine zurück. Narcisse geriet ins Schwitzen. Mit einem verkniffenen Lächeln sagte er:
»Ich muss darauf bestehen. Es genügt …«
»Nehmen Sie bitte Rücksicht. Hier warten auch noch andere Patienten. Wir …«
Plötzlich wich sie zurück. Narcisse richtete seine Glock auf sie. Mit der Linken ergriff er seine Bilder, betrat den Röntgenraum und schloss die Tür hinter sich mit einem Fußtritt.
»Was … was …?«
Immer noch mit der Linken begann Narcisse, die Luftpolsterfolie von seinem Clownsbild zu reißen.
»So helfen Sie mir doch in Gottes Namen!«
Sie tat wie geheißen. Mit ihren lackierten Fingernägeln brachte sie die Luftblasen zum Platzen, riss die Folie auf und entblößte das blutfarbene Gemälde. Der Clown mit seinem blass geschminkten Gesicht und seinem traurigen Lächeln erschien.
Narcisse trat einen Schritt zurück. Er hielt beide Hände am Lauf der Glock und zielte auf die Radiologin.
»Und jetzt legen Sie das Bild auf das Gerät!«
Mit fahrigen Bewegungen justierte sie das Gemälde auf dem Untersuchungstisch.
»Und jetzt die Kassette! Ab damit ins Säulenstativ.«
Ohne darüber nachzudenken, hatte er die Worte ausgesprochen – Worte, wie sie von Medizinern benutzt wurden. Die Frau warf ihm einen verblüfften Blick zu. Sie schaltete das Gerät ein. Der Clown auf dem Tisch fixierte Narcisse mit seinen schwarzen Augen. Er schien sich über ihn zu mokieren, als kenne er die Überraschung längst, die unter Farbe und Lack verborgen lag.
»Und jetzt das andere. Schnell!«
Die Technikerin riss die Kassette aus der Lade. Sie glitt ihr aus den Händen und schepperte zu Boden. Sie bückte sich, hob sie auf und nahm eine neue. In der Zwischenzeit hatte Narcisse die Schnur durchtrennt, mit der das Tuch um den Briefträger zusammengebunden war.
»Beeilen Sie sich.«
Die Frau gehorchte. Narcisse hatte den Eindruck, die Strahlendosis im eigenen Körper zu spüren. Sie öffnete das Stativ und entnahm ihm die Kassette.
»Wo können wir uns das Ganze ansehen?«
»Nebenan.«
Neben dem Röntgenraum befand sich ein Büro. Narcisse, die Glock in der Hand, ließ die Frau vor sich hergehen. Sie setzte sich vor die Bildschirme und schob die Kassetten in ein großes Gestell, das wie ein altmodischer Fotokopierer aussah.
»Dauert ein paar Sekunden«, flüsterte sie atemlos.
Narcisse beugte sich über ihre Schulter und starrte auf den schwarzen Bildschirm.
»Wissen Sie, was die Gnostiker behauptet haben?«, fragte er, während er der Frau den Lauf in den Rücken presste.
»Nein … Nein.«
»Die Welt ist nicht ein Angesicht Gottes, sondern die Lüge des Dämons.«
Sie antwortete nicht. Es gab nichts zu antworten. Er hörte sie keuchen und spürte, wie sie schwitzte. Sogar das nervöse Klopfen ihres Herzens konnte er spüren. Sein Wahnsinn schärfte seine Sinne, seine Intuition und sein Bewusstsein. Er hatte das Gefühl, die geheime Natur des Kosmos in sich aufzunehmen.
Und dann flackerte ein Bildschirm auf und enthüllte das erste Röntgenbild.
Tatsächlich befand sich unter dem Bild ein weiteres Bild, oder eher eine Zeichnung. Sie war im Stil der Federzeichnungen gehalten, die man häufig in den Feuilletons des frühen 20. Jahrhunderts fand. Die Darstellung wirkte theatralisch.
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