Der Ursprung des Bösen
»Ich vervollständige seine Sammlung.«
Narcisse hatte sich nicht getäuscht. Dieser reiche Sohn war sowohl ein Gefangener seiner Herkunft als auch seiner Sammlung. Die Gemälde an den Wänden waren wie die schwarzen Blütenblätter einer fleischfressenden Pflanze, die ihn nach und nach verschlang.
»Was willst du, Arschloch?« Reinhardts Ton wurde plötzlich bösartig. »Was hast du hier zu suchen?«
Verblüfft drehte Narcisse sich um. Reinhardt hielt eine kleine Pistole auf ihn gerichtet. In der Dunkelheit war nur der Lauf zu sehen, doch das Ding wirkte nicht echt.
»Du willst mich berauben, nicht wahr?«
Ohne aus der Ruhe zu geraten, ging nun auch Narcisse zum Du über.
»Eines Tages überraschten die Aufseher im Musée du Luxembourg einen alten Mann mit Palette und Pinsel, der ein ausgestelltes Gemälde von Pierre Bonnard kopierte. Der Alte wurde sofort hinausgeworfen. Es war Bonnard selbst.«
Reinhardt lachte erneut. Er hatte sehr schlechte Zähne.
»Die gleiche Geschichte erzählt man sich von Oskar Kokoschka.«
»Ein Maler wird mit seinem Werk nie wirklich fertig.«
»Will heißen?«
»Ich möchte ein paar Veränderungen an meinem Bild vornehmen. An dem, das du gekauft hast. Der Briefträger . Ich brauche es nur ein, zwei Tage.«
Auf eine solche Bitte war Reinhardt nicht gefasst. Er passte eine Sekunde lang nicht auf. Narcisse schlug ihm mit der Handkante auf die Faust und entwaffnete ihn. Der Erbe stieß einen spitzen Schrei aus, der sich anhörte wie der Ruf eines Wiesels. Narcisse packte ihn am Hals, drückte ihn an die Wand und hielt ihm seine Pistole unter die Nase. Die Glock wirkte deutlich überzeugender als die winzige Waffe.
»Wo ist mein Bild?«
Er erhielt keine Antwort. Reinhardt sackte zusammen, wurde aber nicht ohnmächtig.
»Her mit meinem Bild«, zischte Narcisse zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Dann überlasse ich dich gerne deinem Vivarium.«
Die personifizierte Dekadenz lag auf den Knien und blickte ihn stumpfsinnig an. In den Augen des Mannes standen Tränen. Sie funkelten wie zwei Kerzen und gaben ihm plötzlich etwas Feierliches.
»Wo zum Teufel ist mein Bild?«
»Nicht hier.«
»Wo dann?«
»In meinem Lager.«
»Und wo ist dieses Lager?«
»Unten im Hof. Ein Atelier.«
Narcisse zog ihn mit einer einzigen Bewegung auf die Füße und zeigte auf die Tür.
»Nach dir!«
D ie Polizei von Nizza hat sich bei mir gemeldet. Sie stellen immer noch die Villa Corto auf den Kopf.«
»Und?«
»Nichts. Keine Spuren, keine Indizien. Es ist geradezu unmöglich herauszufinden, wer den Psychiater und die Pfleger getötet hat. Und was die Augenzeugen angeht – nun, du hast sie ja selbst gesehen.«
»Hat jemand von mir gesprochen?«
»Niemand ist in der Lage, von irgendwem zu sprechen.«
Anaïs saß in ihrem Mietwagen. Crosniers Stimme schien von einem anderen Planeten zu kommen. Seit zehn Minuten wartete sie in der Rue du Bac an der Ecke zur Rue de Montalembert. Die schräge, relativ kurze Straße lief auf ein auffälliges Gebäude zu. Es war der Verlag Gallimard, der lediglich mit der Abkürzung »NRF« gekennzeichnet war.
»Und sonst?«
»Fer-Blanc ist tot.«
Anaïs war nie davon ausgegangen, dass er sich noch einmal erholen würde. Außerdem war das alles längst Schnee von gestern. Ihre Waffe lag auf ihren Knien. Die beiden Jäger standen zehn Meter weiter neben dem Q7 an der Ecke der Rue du Bac. Sie hatte das Kennzeichen bereits verglichen, und auch die Männer entsprachen der Personenbeschreibung. Mäntel aus schwarzer Schurwolle, Anzüge von Hugo Boss, das blasierte Verhalten von Beamten, die sich ihrer Sache sicher waren.
Sie schlenderten um ihr Fahrzeug herum wie ganz normale Chauffeure und blickten von Zeit zu Zeit zur Fassade des Hauses Rue Montalembert 1 hinauf. Narcisse musste dort drinnen sein. Irgendwo in diesem Haus bei Sylvain Reinhardt.
»Ich rufe dich zurück.«
Soeben verließ Narcisse das Gebäude. Unter dem Arm trug er zwei Bilder. Das eine war in Luftpolsterfolie verpackt, das andere in ein mit Kordel zusammengehaltenes Betttuch. Die Söldner setzten sich in Bewegung. Anaïs öffnete die Wagentür. Victor Janusz alias Mathias Freire alias Narcisse wandte dem Verlag Gallimard den Rücken zu und ging in Richtung Rue du Bac.
Er passierte das Hotel Montalembert, das Hotel Pont-Royal, das Restaurant Atelier de Joël Robuchon. Mit seinen Gemälden in der Hand wirkte er wie ein Schlafwandler. Obwohl er starr vor sich hinblickte, schien er nichts zu
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