Der Ursprung des Bösen
Wunder oder ein Irrtum? Meinte der Mann ihn selbst oder irgendeine andere seiner vielen Persönlichkeiten?
»Willst du wieder etwas bestellen?«
»Genau.«
»Wie immer?«
»Wie immer.«
»Warte. Ich schaue mal eben in die Unterlagen.«
Narcisse hörte, wie auf einer Tastatur herumgetippt wurde.
»Weißt du eigentlich, dass ich dein kleines Gemälde immer noch hier im Büro hängen habe?«, berichtete der Mann, während er suchte. »Meine Kunden finden es einfach toll. Sie können kaum glauben, dass unser Laden zu so etwas beigetragen hat.« Er lachte. Narcisse antwortete nicht.
»Wohin sollen wir liefern? An die übliche Adresse?«
»Welche hast du denn in den Unterlagen?«
»Rue de la Roquette 188 im 11. Arrondissement.«
Offenbar gab es doch einen Gott, der sich um Flüchtige kümmerte!
»Ja, das ist die richtige«, erklärte er und schrieb sich die Daten auf. »Ich rufe dich später noch mal an, falls ich noch etwas brauche.«
»Kein Problem, Picasso. Wir sollten unbedingt mal wieder zusammen essen gehen.«
»Auf jeden Fall.«
Narcisse legte auf und bemühte sich, sein unverhofftes Glück zu fassen. Der Staub, der aus dem Teppichboden aufstieg, prickelte auf seiner Haut. Der Schmerz seiner gebrochenen Nase trieb ihm noch immer die Tränen in die Augen. Aber er hatte wieder einmal gesiegt. Das geklärte Leinöl hatte ihn zu einer weiteren Facette seines Selbst geführt. Möglicherweise zum unmittelbaren Vorgänger von Narcisse.
I n der Rue de la Roquette Nummer 188 befand sich kein Wohnhaus, sondern eine Art Dorf. Man hatte alte Fabriken renoviert und zu Lofts umgebaut, in denen Künstler, Produktionsfirmen und Werbeagenturen untergebracht waren. Die Gebäude waren zweigeschossig und besaßen große, hohe Fenster. Die gepflasterten Wege zwischen den Häusern glänzten in der Sonne.
Narcisse empfand nicht die mindeste Vertrautheit, doch die anheimelnde Umgebung und die tröstliche kleine Welt abseits des Pariser Trubels gefielen ihm. Ein kleines, familiäres Künstlerviertel.
»Nono?«
Er brauchte ein paar Sekunden, ehe ihm klar wurde, dass er gemeint war. Nono als Kosename für Arnaud! Zwanzig Meter entfernt saßen zwei junge Frauen auf der Schwelle eines Gebäudes und gönnten sich eine Zigarettenpause.
»Wie geht’s dir? Wir haben dich ja ewig nicht mehr gesehen!«
Narcisse zwang sich zu einem Lächeln, trat aber nicht näher. Er war in Hemdsärmeln. Seine angeschwollene Nase wurde von Minute zu Minute schwärzer. Die Mädchen kicherten.
»Bekommen wir etwa keinen Begrüßungskuss mehr?«
»Ich bin erkältet.«
»Wo warst du überhaupt?«
»Verreist«, erklärte er. »Ausstellungen – ihr wisst schon.«
»Ganz ehrlich: Du hast schon mal besser ausgesehen.«
Sie kicherten wieder und stießen sich gegenseitig an. Bei beiden spürte er eine unterschwellige Erregung, eine Art spöttische Komplizenhaftigkeit. Ob er vielleicht mit einer von ihnen schon einmal geschlafen hatte? Oder sogar mit beiden?
»Du darfst dich bei uns bedanken. Wir haben deine Blumen gegossen.«
»Das habe ich gesehen«, behauptete er. »Danke schön.«
Er schlug den erstbesten gepflasterten Weg ein und hoffte, dass es der richtige war. Die Mädchen sagten nichts, was nur bedeuten konnte, dass er sich nicht geirrt hatte. Der freundliche Empfang hatte ihn überrascht. Er schien also wirklich Arnaud zu sein. Wenn man davon ausging, dass Arnaud der unmittelbare Vorgänger von Narcisse war, hatte er sich mindestens fünf Monate hier nicht mehr blicken lassen.
Doch es war müßig, darüber nachzudenken. Noch stand er ganz unter dem Eindruck einer anderen Nachricht. Auf dem Fußmarsch zur Rue de la Roquette war er vor einem Zeitungskiosk stehen geblieben und hatte die Tageszeitungen durchgeblättert, wobei er sich auf die Titelseite und die Rubrik »Vermischtes« beschränkte. Über seine Flucht aus dem Hôtel-Dieu fand er nichts – dazu war es noch zu früh. Über die Schießerei in der Rue de Montalembert allerdings wurde kurz berichtet.
Aber eine ganz andere Schlagzeile fiel ihm ins Auge. Es ging um eine Katastrophe, die tausend Kilometer entfernt geschehen war und die er hätte voraussehen müssen.
BLUTBAD IN PSYCHIATRISCHER ANSTALT. Bei einem Amoklauf in der Nähe von Nizza wurden ein Psychiater und zwei Pflegekräfte getötet …
Die Gendarmen von Carros hatten gestern gegen 9.00 Uhr die Leichen von Jean-Pierre Corto und zweier seiner Pfleger im Büro des Arztes gefunden. Ersten Untersuchungen zufolge war der
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