Der Ursprung des Bösen
zurück.«
Lachen und Kussgeräusche. Und so ging es weiter. Nicht eine einzige Männerstimme war auf dem Band. Auch kein sachlicher, normaler Anruf und schon gar keine beunruhigte Nachfrage.
Noch einmal inspizierte er seine Umgebung. Die Segelschiffe. Die Markenklamotten. Das orangefarbene Federbett und die schwarzen Betttücher. Das Designerbad. Er musste seine Meinung revidieren. Er befand sich hier nicht in einem Künstleratelier, sondern in einer Frauenfalle. Hier lebte kein einsamer, leidender Künstler wie Narcisse. Nono war wohl eher ein Lebemann und Verführer. Und dank irgendeines Tricks hatte er offenbar eine Menge Geld verdient. Sein Leben schien er damit zu verbringen, dieses Geld mithilfe williger Damen auszugeben; an der Erforschung seiner Vergangenheit war er offensichtlich nicht interessiert.
Plötzlich drang eine ernste Stimme aus dem Gerät. Es war ein bereits abgehörter, jedoch nicht gelöschter Anruf.
»Arnaud, ich bin es. Wir treffen uns zu Hause. Langsam wird es beängstigend. Ich bin kurz davor auszuflippen.«
Danach folgte nur noch ein Piepsen. Narcisse blickte auf das Datum. 29. August um 20.20 Uhr. Auch diese Stimme gehörte einer Frau, doch sie hatte nichts mit dem Gurren der anderen Anruferinnen gemein. Auch sagte sie nicht »Nono«, sondern »Arnaud«. Und die Nachricht hörte sich keineswegs nach einer erotischen Verheißung, sondern nach einem Hilferuf an.
Es war der letzte Anruf auf dem Band und damit chronologisch gesehen der erste. Am 29. August. Wie hatte Corto noch gesagt? »Du wurdest Ende August neben der Ausfahrt 42 der Autobahn A 8 gefunden. Die Ausfahrt heißt Cannes-Mougins.«
Wiederholt hörte Narcisse die Nachricht ab. Diese Worte also waren der Grund dafür, dass er seine Wohnung zum letzten Mal verlassen hatte. Nach diesem Datum hatte er sie nie wieder betreten. Alle folgenden Anrufe waren ins Leere gelaufen.
Auf dem Weg nach Cannes war er zu Narcisse geworden.
Lebte diese Frau in Cannes? Oder hatte er sie besucht, ehe er an die Côte d’Azur floh? War seine Krise eingetreten, bevor er mit ihr zusammenkam? Sicher nicht. Denn wäre er nicht am Treffpunkt erschienen, hätte sie sich wahrscheinlich wieder gemeldet. Sie hatten sich also gesehen und danach endgültig getrennt.
Es sei denn, er war zu spät gekommen …
Er konsultierte das digitale Display, doch die Nummer der Anruferin war unterdrückt. Doch es gab noch eine andere Frage, die ihn beschäftigte. Offenbar kannte er eine ganze Menge Frauen. Aber woher hatte er all diese Eroberungen? Wo lagen seine Jagdgründe?
Unter einer Art Mansardenfenster im Schlafzimmer befand sich ein kleiner Schreibtisch aus lackiertem Holz, wie man ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig in Notarskanzleien sah. Auf diesem Tischchen stand ein MacBook. Und plötzlich wusste Narcisse, wie Nono seine Frauen kennenlernte. Er flirtete per Internet.
Er setzte sich vor den Computer, schaltete ihn ein und zog gleichzeitig den schweren Vorhang vor dem Fenster zu. Sein Instinkt sagte ihm, dass er diese Geste schon Tausende Male ausgeführt hatte.
Der Mac begann zu summen und fragte ihn nach dem Passwort. Ohne zu zögern tippte Narcisse das Wort NONO ein. Der Rechner informierte ihn, dass das Passwort aus mindestens sechs Zeichen bestehen müsse. Er tippte NONONO, wobei er an den Text eines alten Songs von Lou Reed dachte: And I said no, no, no, oh Lady Day … Und schon hatte er es geschafft.
Er klickte Safari an, um die Chronik seiner letzten Sitzungen aufzulisten, und fand sich plötzlich in einer anderen Welt wieder. Es war die Welt des Web 2.0, die Welt der sozialen Netzwerke, der Webseiten für Online-Dating und der virtuellen Labyrinthe. Während der letzten Wochen seiner Existenz hatte Nono einen großen Teil seiner Zeit mit Surfen verbracht, Kontakte geknüpft, gechattet und E-Mails geschrieben. Die unterschiedlichsten Logos flitzten an seinen Augen vorüber: Facebook, Twitter, Zoominfos, 123people, Meetic, Badoo und Match.com.
Nono hatte nicht nur gesucht, sondern sich auch selbst zur Schau gestellt – er war nicht nur Jäger, sondern auch Beute gewesen. Die Online-Zeiten sprachen dafür, dass er ganze Nächte im Netz verbrachte.
Diese zwanghafte Suche sprach dafür, dass Chaplain ganz gezielt auf der Suche nach etwas oder jemandem war. Er notierte die Namen der besuchten Domains, ging sie der Reihe nach durch und fand ebenso viele seriöse Partnervermittlungen wie auch Seiten, die ausschließlich dem sexuellen
Weitere Kostenlose Bücher