Der Ursprung des Bösen
eine Bibliothek oder ein Dokumentationszentrum aufsuchen müssen. Er sah sich bereits in Hemdsärmeln durch Paris irren, denn sein Jackett konnte er unmöglich auslösen.
Offenbar war es tatsächlich so, dass er in diesem orange tapezierten Zimmer auf Gedeih und Verderb festsaß. Ein Ausweg fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
Während er noch darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass seine psychischen Fluchten nicht hermetisch voneinander abgeschottet waren. Die Mauern zwischen seinen Persönlichkeiten waren bis zu einem gewissen Grad durchlässig, und immer wieder gab es Dinge, die ihm im Gedächtnis geblieben waren. Seine Ausbildung zum Psychiater. Die Erinnerung an Anne-Marie Straub. Sein Talent als Maler. Fast jeder dieser Linien war er gefolgt, ohne etwas zu erreichen.
Jetzt blieb nur noch die Malerei. Wenn er in einem anderen Leben wirklich einmal Maler gewesen war, hatte er vielleicht die gleichen Farben und die gleiche Technik benutzt wie Narcisse. Die eng beschriebenen Seiten des Heftchens fielen ihm ein – die Zusammensetzung seiner Farben, der prozentuale Anteil der Pigmente. Schade, dass er das Heft nicht mehr besaß, denn an die einzelnen Zahlen konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.
Plötzlich setzte er sich auf. Hatte Corto ihm nicht erklärt, dass Narcisse zum Mischen seiner Farben geklärtes Leinöl benutzte? Und zwar nicht irgendein Öl, sondern ein Industrieöl, das er direkt beim Hersteller kaufte. Es ging um Produzenten, die ihre Ware normalerweise tonnenweise lieferten.
Das war ein möglicher Ansatz. Lieferanten für Leinöl in Paris! Falls er als Maler in Paris gelebt hatte, gab es vielleicht einen Vertrag mit einem Hersteller für chemische oder landwirtschaftliche Produkte. Sicher würde man sich des Malers erinnern, der nur wenige Liter Öl im Jahr abnahm.
Im Zimmer befand sich ein Telefon, das tatsächlich angeschlossen war. Er lächelte unwillkürlich, um sofort stöhnend das Gesicht zu verziehen. Es tat einfach noch viel zu weh.
Zunächst rief er die Zeitansage an. 10.10 Uhr. Dann wählte er die Nummer der Auskunft. Seine neue Stimme überraschte ihn. Sie klang nasal, hohl und fremd. Er musste die Auskunft mehrfach anrufen, bis er nach und nach eine Liste der Leinöllieferanten in der Île-de-France zusammengestellt hatte.
Auf dem Nachttisch lagen ein Schreibblock mit dem Logo des Hotels und ein Stift. Narcisse schrieb sich Namen, Orte und Telefonnummern auf. Es gab ungefähr ein Dutzend Hersteller im Raum Paris, die infrage kamen. Die Firmensitze befanden sich so gut wie alle außerhalb des eigentlichen Stadtgebiets: in Ivry-sur-Seine, Bobigny, Trappes, Asnières oder Fontenay-sous-Bois.
Beim ersten Anruf erklärte Narcisse, er sei Maler und wolle sich direkt vom Produzenten beliefern lassen. Der Chef einer Firma namens Prochemie lehnte freundlich ab: Man beliefere lediglich Hersteller von Kitt, Lacken, Industrietinte und Linoleum. Mit dem Mischen von Farben für künstlerische Zwecke habe man nichts zu tun. Der Mann verwies ihn an Spezialisten wie Old Holland, Sennelier, Talens oder Lefranc-Bourgeois.
Narcisse bedankte sich und legte auf. Die nächste Nummer war die von CDC, einem Produzenten von Wachsen, Lacken und Harzen in Bobigny, wo er die gleiche Antwort erhielt. Auch Kompra, ein Spezialist für Metalle und Kunststoff, konnte ihm nicht weiterhelfen. Und so ging es weiter. Stets wurde ihm nahegelegt, sich an Firmen zu wenden, die das erforderliche Öl in kleineren Mengen verkauften.
Beim siebten Anruf begriff er, dass seine Vorgehensweise ihn nicht weiterbringen würde. Verzweifelt dachte er an die öden Stunden, die vor ihm lagen, als sein Gesprächspartner plötzlich fragte:
»Arnaud, bist du das?«
Er hatte eine Firma namens RTEP am Apparat, die sich auf Naturöle spezialisiert hatte. Narcisse reagierte sofort.
»Ja sicher!«
»Lieber Himmel, wo warst du denn die ganze Zeit?«
Narcisse drückte an seiner Nase herum. Seine Stimme sollte dem Menschen am anderen Ende der Leitung so normal wie möglich erscheinen, doch alles, was er damit erreichte, war eine jähe Schmerzattacke. Mit letzter Mühe erstickte er einen Klagelaut.
»Auf Reisen«, erklärte er dumpf.
»Deine Stimme klingt komisch. Beinahe hätte ich dich nicht erkannt.«
»Ich bin tierisch erkältet.«
»Und? Was macht die Kunst?«
»Alles im grünen Bereich.«
Narcisse bemerkte, dass seine freie Hand unkontrolliert zitterte. Seine Gedanken überschlugen sich. War es ein
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