Der Ursprung des Bösen
Bordeaux: Philippe Duruy hatte ihm erzählt, der Mann, der ihm den Schnee geben wolle, habe ein bandagiertes Gesicht gehabt. Der Mörder spielte Rollen. Er versetzte sich in die Gestalten der Sagen.
»Und um welchen Mythos handelt es sich in diesem Fall?«, fragte Solinas gerade.
»Das weiß ich nicht, aber es lässt sich herausfinden. In der griechischen Mythologie dürfte es sicher mehrere Geschichten über Kastrationen geben. Meiner Ansicht nach wäre es allerdings wichtiger, die Spur dieses Mordes hier in Paris zu verfolgen.«
»Danke für den Tipp. Aber das dürfte ganz schön schwierig werden. Obdachlose bringen sich ständig gegenseitig um.«
»Und entmannen ihr Opfer?«
»Denen fällt doch immer etwas ein. Ich denke, wir schalten die Gerichtsmedizin ein.«
Solinas setzte sich wieder zurecht und begann erneut, mit dem Ring zu spielen.
»In deiner Geschichte gibt es eine Menge schwarzer Löcher«, erklärte er skeptisch. »Wieso bist zum Beispiel du hier in Paris?«
Diese Frage hatte Anaïs erwartet. Um zu antworten, musste sie die beiden Hugo-Boss-Mörder ins Spiel bringen.
»Dieser Fall hat noch eine andere Seite«, begann sie nach kurzem Zögern.
»Wir hatten vereinbart, dass du mir alles sagst, Kleine.«
Und so begann Anaïs noch einmal ganz von vorn. Sie erzählte von Patrick Bonfils, dem Mann ohne Gedächtnis, und wie man ihn am Strand von Guéthary samt seiner Frau gewaltsam ausgeschaltet hatte. Sie berichtete von dem am Tatort beobachteten Audi Q7, der einer Firma namens ACSP gehörte, die wiederum Mitglied der Mêtis-Gruppe war.
»Mêtis? Was ist das?«, unterbrach Solinas.
Anaïs fasste die wichtigsten Einzelheiten zusammen: Ein ursprünglich agrarwissenschaftlich orientiertes Unternehmen, das sich in den 1980er Jahren der Pharmazie zugewandt hatte. Zwischen den Forschungsabteilungen und der französischen Armee bestanden möglicherweise obskure Verbindungen. Solinas hob ungläubig die Augenbrauen. Anaïs wandte sich konkreteren Erkenntnissen zu. Sie schilderte den vorgetäuschten Diebstahl des von zwei professionellen Scharfschützen gefahrenen Q7, und dass es ihr der geknackte Tracker-Code ermöglicht habe, den beiden Mördern zu folgen, die es wiederum auf Narcisse abgesehen hatten.
»Klingt wie ein Groschenroman.«
»Und was ist mit den beiden Toten in der Rue de Montalembert?«
»Bei der Schießerei hat es keine Opfer gegeben.«
»Wie bitte?«
»Zumindest keine Toten.«
»Aber ich habe sie mit eigenen Augen gesehen! Freire hat den ersten erschossen und den zweiten mit seinem Messer erledigt.«
»Wenn die Kerle wirklich von dem Kaliber sind, wie du sie beschreibst, trugen sie mit Sicherheit kugelsichere Westen. Dein Narcisse hat keine Erfahrung. Wahrscheinlich hat er einfach blind draufgehalten. Es wäre wirklich ein Wunder, wenn er einen der beiden auch nur gestreift hätte. Außerdem war sein Revolver mit einer Munition ohne große Durchschlagkraft bestückt. Wir haben die Patronen sichergestellt. Eine Lachnummer bei einer Weste aus Kevlar oder Karbonfasern. Das Gleiche gilt übrigens für das Messer. Als dein Freund dem Kerl das Messer in die Rippen rammte, hat er vermutlich nicht einmal die zweite Gewebelage erreicht.«
»Ich habe die Männer aus nächster Nähe gesehen«, widersprach Anaïs. »Sie trugen taillierte, eng geschnittene Anzüge. Darunter hätte eine kugelsichere Weste beim besten Willen keinen Platz gehabt.«
»Ich zeige dir bei Gelegenheit mal, was heute so auf dem Markt ist. Die Dinger sind nicht dicker als eine Taucherkombi.«
»Aber es wimmelte doch nur so von Bullen! Die waren doch überall!«
»Ein Grund mehr. In einem solchen Chaos konnten sie unbemerkt verschwinden. Unsere ersten Leute vor Ort waren Streifenpolizisten, die keine Erfahrung mit Schießereien haben. Was uns betrifft, so kamen wir schlicht zu spät. Als wir eintrafen, warst nur noch du da. Und natürlich dein verrückter Maler.«
Anaïs hakte nicht weiter nach. Jetzt war sie an der Reihe, Informationen zu sammeln.
»Sie haben Narcisse doch sicher verhört. Was hat er denn ausgesagt?«
Solinas grinste ironisch und fummelte wieder an seinem Ring herum. In einer Frauenzeitschrift hatte Anaïs einmal gelesen, dass ein solches Verhalten den Wunsch ausdrücke, dem Joch der Ehe zu entfliehen.
»Man merkt deutlich, dass du nicht ganz auf dem Laufenden bist.«
»Wieso?«
»Dein Süßer ist uns heute Nacht wieder mal entwischt.«
»Das glaube ich nicht!«
Solinas zog eine Schublade auf
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