Der Ursprung des Bösen
dafür bezahlt? Er ging zurück zur Tür, wo er den Haufen Post abgelegt hatte. Anhand der Umschlagfenster erkannte er Behördenbriefe, Beitragsforderungen, Mahnschreiben und Sammelrechnungen. Sie kamen von Versicherungen, der Bank und der Telefongesellschaft. Ehe er sich jedoch darum kümmerte, wollte er zunächst einmal einen Rundgang machen.
Er begann mit der Küche. Die Zeile bestand aus lackiertem Holz, die Ablagen aus Chrom und die Geräte waren der letzte Schrei. Alles war in bestem Zustand, allerdings ein wenig staubig. Chaplain schien ein Saubermann zu sein. Ob er wohl eine Haushälterin beschäftigte? Und wenn ja – besaß sie die Schlüssel zu dieser Wohnung? Vermutlich eher nicht.
Er öffnete den Kühlschrank und entdeckte ziemlich verdorbene Lebensmittel. Wie jeder »Reisende ohne Gepäck« war er fortgegangen, ohne zu wissen, dass er nicht wiederkommen würde.
In der Tiefkühltruhe fand er reifbedeckte Tüten mit Dim-Sum-Gerichten, grünen Bohnen und Bratkartoffeln. Beim Anblick der gefrorenen Lebensmittel begann sein Magen zu knurren. Er packte die Dim Sums aus und steckte sie in die Mikrowelle. Nachdem er einige Schränke geöffnet hatte, fand er Soja- und Chilisauce. Wenige Minuten später ergötzte er sich an asiatischen Köstlichkeiten.
Als er schließlich satt war, wurde ihm zunächst schlecht. Er hatte viel zu schnell gegessen. Ihm war längst klar, dass er viel Kraft und Energie brauchen würde, denn das Spiel ging weiter. Er stellte Teller und Tassen in den Spülstein. Offenbar nahm er intuitiv die alten Gewohnheiten eines Singledaseins wieder auf.
Von der Küche aus stieg er die Stahltreppe hinauf. Das Geländer bestand aus Tauen, die ihn an ein Segelschiff erinnerten. Vielleicht waren es sogar wirklich Schiffstaue.
Hinweise darauf, dass ihm viel am Segelsport lag, verstärkten sich in der ersten Etage. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos von alten Segeljachten. Überall fanden sich Schiffsmodelle mit lackierten Holzrümpfen. Ein großes Bett mit schwarzen Laken und einer orangefarbenen Decke stand vor einem riesigen Fernsehbildschirm. Hinter weiß gekalkten Holztüren verbargen sich begehbare Schränke.
Narcisse unterzog sie einer eingehenden Inspektion. Leinenhemden. Jeans und Tuchhosen. Markenanzüge. Und die Schuhe passten dazu. Stiefel von Weston, Mokassins von Prada, Loafer von Tod’s. Chaplain ging mit der Mode und ließ sich seine Eleganz etwas kosten.
Er trat in das Bad, das hinter einer Verbundglastür lag. Die Wände waren in dunklem Zink gehalten und vermittelten den Eindruck, in einen reinen, frischen Tank einzutauchen. Die Doppelwaschbecken waren mit Wasserfall-Armaturen ausgestattet. Bei jedem Schritt fragte sich Narcisse, mit welchem Geld Chaplain diesen ganzen Luxus bezahlt hatte.
Er entschloss sich zu einer kühlen Dusche. Zehn Minuten unter dem harten Wasserstrahl reinigten ihn von allem Blut, der Gewalt und der Angst der vergangenen vierundzwanzig Stunden und hinterließen ein seltsames Gefühl von Unschuld und Stärke. Auf der Suche nach einem Mittel zur Wunddesinfektion stieß er lediglich auf ein Flacon Eau d’Orange Verte von Hermès. Damit betupfte er seine Verletzungen, verpflasterte sie und wählte ein legeres Outfit à la Chaplain, bestehend aus einer Jogginghose von Calvin Klein sowie T-Shirt und Kapuzenjacke von Armani.
Als er gerade anfing, sich behaglich zu fühlen, entdeckte er am Fußende des Bettes einen Anrufbeantworter. Er setzte sich auf das Bett. Das Gerät blinkte. Chaplain hatte also doch Freunde gehabt, die sich um ihn sorgten. Er betätigte die Taste, ohne sich um Fingerabdrücke zu kümmern – die waren hier ohnehin überall und seit langer Zeit.
Statt der erwarteten ängstlichen Stimmen meldete sich eine fröhliche Frau.
»Hey, Nono, was ist los?«, gluckste sie. »Schmollst du oder was? Audrey hat mir deine Nummer gegeben. Ruf mich an.«
Die lachende Stimme erinnerte ihn an das affektierte Getue der beiden Raucherinnen vor dem ersten Atelier. Narcisse warf einen Blick auf das Display. Der Anruf stammte vom 22. September. Der nächste Anruf hörte sich fast an wie das Miauen einer Katze. Er stammte vom 19. September.
»Bist du nicht da, Baby?«, flüsterte eine samtene Stimme. »Hier ist Charlene. Wir beide sind noch nicht fertig.«
Der dritte Anruf, vom 13. September, hörte sich ähnlich an.
»Nono? Ich bin gerade bei einer Freundin, und wir haben uns überlegt, ob wir nicht mal vorbeikommen sollten. Ruf einfach
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