Der Ursprung des Bösen
Psychiater vor seinem Tod lange gefoltert worden.
»Nehmen Sie die Zeitung oder nicht?«
Narcisse hatte es vorgezogen, dem Zeitungshändler nicht zu antworten, sondern war geflohen. Er stand unter einem Fluch. Er war Der Schrei von Edward Munch. Wie hatte er nur davon ausgehen können, dass die Mörder sich damit begnügen würden, der Villa Corto einfach nur einen Besuch abzustatten? Der Arzt war lange gefoltert worden . Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Er fühlte sich schuldig. Wo immer er auftauchte, zog er Zerstörung und Gewalt nach sich. Er war eine Art menschlicher Blitzkrieg.
Aber trotz seines Entsetzens meldete sich wieder einmal sein Überlebenswille. Nicht mit einem einzigen Satz wurde die Anwesenheit von Narcisse in der Villa Corto während der beiden Tage vor dem Ereignis erwähnt. Er dachte an die Insassen der Anstalt: Ihre Zeugenaussage würde bei den Ermittlungen sicher nicht gewertet werden. Laut dem Zeitungsbericht schien die Polizei davon auszugehen, dass die Bluttat das Werk eines der Patienten war. Daher konzentrierte man sich bei den Ermittlungen auf die in der Villa untergebrachten Künstler. Narcisse wünschte den Bullen viel Glück dabei.
Im Vorübergehen las er die Namen auf den Briefkästen der Ateliers. Einen Arnaud fand er nicht. Am Ende des Weges entdeckte er eine unter Bambus, Lorbeer und Liguster halb verborgene Glasfassade. Waren das etwa Nonos Pflanzen? Er tauchte zwischen das Blattwerk und entdeckte den Briefkasten, der mit Arnaud Chaplain beschriftet war.
Der Briefkasten quoll fast über. Alle Briefe waren an Arnaud Chaplain adressiert. Es handelte sich ausschließlich um Anschreiben von Behörden, Kontoauszüge, Reklamesendungen und Angebote von Marketingagenturen – Persönliches war nicht dabei.
Auf der Suche nach einem versteckten Schlüssel hob er einen Terrakottatopf nach dem anderen, fand aber nichts. Blieb nur noch ein gut gezielter Faustschlag. Versteckt hinter einem hohen Bambus versetzte er der nächst dem Schloss gelegenen Scheibe einen heftigen Schlag. Beim dritten Versuch zerbrach das Glas und fiel in den Flur des Ateliers.
Narcisse steckte den Arm durch die Öffnung, schob den Riegel zurück und drückte die Klinke.
Er betrat das Loft, stolperte über einen weiteren Berg Post, der auf dem Boden lag, und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.
Die Vorhänge vor den großen Fenstern waren zugezogen. Niemand konnte ihn sehen. Er blickte sich um und atmete genüsslich die abgestandene Luft ein.
Er war zu Hause.
D ie Wohnung bestand aus einem einzigen großen Raum von mehr als hundert Quadratmetern. Genietete Stahlträger stützten ein Glasdach. Ein grau gestrichener Betonboden. Die Wände waren aus Ziegeln gemauert. Links ein Spülstein, ein Herd, ein Kühlschrank und ein Geschirrspüler. Zur Rechten sah er unzählige Farbtuben, Paletten, Lösungsmittel, Behälter mit eingetrockneter Farbe, Rahmen und zusammengerollte Leinwände.
Narcisses Aufmerksamkeit wurde von einem Detail angezogen. Am Ende des Lofts stand unter einer Art Zwischengeschoss ein schräg gestellter Zeichentisch vor einer weiteren Fensterwand, deren Ausblick durch wild wuchernden Bambus eingeschränkt wurde. Er trat einen Schritt näher und entdeckte Skizzen für Werbezeichnungen in Bleistift und Kohle. Einige davon hingen sogar über dem Tisch an der Wand.
Chaplain war also nicht nur Maler, sondern auch Illustrator und Art Director und arbeitete in der Werbung. Im Übrigen fand Narcisse weder ein Gemälde noch die kleinste Skizze. Auf den Werbezeichnungen fanden sich weder Logos noch Markennamen. Es ließ sich also nicht feststellen, für wen Chaplain als Art Director tätig gewesen war. Nur eines war sicher: Er arbeitete zu Hause als Selbstständiger.
Narcisse kehrte in die Mitte des Lofts zurück. Halbkugelige New-York-Lampen aus gebürstetem Aluminium hingen von der Decke. Auf dem Boden lagen bunte Teppiche mit abstrakten Motiven. Die wenigen Möbel bestanden aus lackiertem Holz und wiesen klare Linien ohne jeden Schnickschnack auf. Zwischen dem Obdachlosen Victor Janusz und dem verrückten Maler Narcisse lagen Welten. Aber mit welchem Geld hatte Chaplain diesen ganzen Luxus finanziert? Konnte er sich mit dem Honorar eines Werbegrafikers diese Dinge leisten? Oder verkaufte er seine Gemälde ebenso teuer wie Narcisse?
Fragen über Fragen.
Wie lange war Narcisse Chaplain gewesen? Seit wann hatte er dieses Loft gemietet? Wer hatte während der Monate seiner Abwesenheit
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