Der Ursprung des Bösen
war entsetzt.«
»Glaubst du, sie hat etwas unternommen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat sie die Polizei benachrichtigt.«
»Aber du hast weiter an den Treffen teilgenommen.«
Zum ersten Mal lachte sie. Doch es war kein frohes Lachen.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
»Hast du immer noch Angst vor mir?«, fragte er.
»Wie schon gesagt: Ich habe keine Angst«, antwortete sie brüsk.
Und als wollte sie ihren Worten Gewicht verleihen, verstaute sie die Waffe wieder in ihrer Tasche.
»Aber irgendetwas stimmt doch nicht.«
Sie trat aus dem Schatten des Torbogens. Ihr Gesicht war tränennass.
»Ich suche einen Mann, verstehst du das? Keinen Serienmörder, keinen Typ, der sein Gedächtnis verloren hat, und auch sonst keinen Spinner. Einfach nur einen Kerl, kapiert?«
Sie spie ihm diese Worte geradezu ins Gesicht. Jetzt hatte sie nichts Entrücktes mehr, sondern erinnerte eher an einen Fisch, der verzweifelt auf dem Trockenen zappelte.
Er sah ihr nach, als sie über den glitzernden Asphalt flüchtete. Gerne hätte er sie zurückgehalten, doch außer seiner eigenen Leere hatte er ihr nichts anzubieten.
S ie war im Hungerstreik. Man hatte sie auf einen Untersuchungstisch geschnallt. Ein Spreizer aus Stahl hielt ihren Mund geöffnet. Jemand schob ihr einen Schlauch für die Nahrungszufuhr in den Schlund. Als sie genauer hinschaute, war der Schlauch eine Schlange mit glänzenden Schuppen. Sie wollte schreien, doch schon drückte der Kopf des Reptils auf ihre Zunge und schnürte ihr die Luft ab …
Anaïs schreckte aus dem Schlaf auf. Sie war schweißgebadet. Ihre Halsmuskeln waren so angespannt, dass sie kaum Luft bekam. Wie betäubt rieb sie sich den Hals. Wie oft hatte sie diesen Albtraum in dieser Nacht schon geträumt? Immer wieder lag sie wach, und wenn sie dann wegdämmerte, griff der Traum nach ihrem Gehirn wie die Klaue eines Raubvogels. Es gab auch Varianten. Manchmal befand sie sich nicht im Gefängnis, sondern in einer Irrenanstalt, wo maskierte Mediziner sie einem Speicheltest unterzogen und dazu eine Schraube in ihre Wange bohrten.
Anaïs klammerte sich an ihr Bettgestell und schlotterte vor Angst und Kälte. Allein bei der Vorstellung, wieder einschlafen zu müssen, überfiel sie Panik.
Die Sonderüberwachung hatte begonnen. Das Guckloch an ihrer Tür klapperte ständig. Um zwei Uhr morgens waren die Aufseherinnen erschienen, hatten das Licht angeknipst, die Zelle durchwühlt und waren wortlos wieder verschwunden. Ohne es zu wissen, hatten sie Anaïs einen Aufschub bis zum nächsten Schlangentraum gewährt.
Jetzt aber kauerte sie in ihrem Bett und beobachtete ihre Umgebung. Sie spürte die Zelle mehr, als dass sie sie sah. Die Enge. Den Geruch von Schweiß, Urin und Reinigungsmitteln. Das Waschbecken an der Wand. Lauerte er dort im Schatten? El Cojo? La Serpiente?
Anaïs drehte sich zur Wand mit den in den Putz geritzten Graffiti, die sie bereits auswendig kannte. Claudia y Sandra para siempre. Sylvie, ich streiche diese Wand mit deinem Blut. Ich zähle die Tage, doch die Tage zählen nicht mehr auf mich . Sie strich mit dem Finger über die Inschriften und kratzte Teile der Farbe ab. Die Mauern – sie hatten schon viel zu lang ihren Dienst getan.
Solinas hatte nicht zurückgerufen. Vielleicht hatte er eine neue Spur gefunden. Oder er hatte Freire verhaftet. Das jedenfalls würde sein Schweigen erklären. Was machte es noch für einen Sinn, eine neurotische Gefangene anzurufen, wenn der Hauptverdächtige eines Verbrechens längst hinter Schloss und Riegel saß?
Seit Stunden schon wälzte sie zwischen Schlaf und Wachen die widersprüchlichsten Gedanken. Manchmal glaubte sie, alles sei längst vorüber. Man hatte Freire verhaftet. Er hatte alles gestanden. Doch nach und nach kehrte die Hoffnung zurück. Freire befand sich noch in Freiheit. Es war ihm gelungen, seine Unschuld zu beweisen. Neue Zuversicht keimte in ihr auf. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, um das Gefühl nicht zu verscheuchen.
Wieder klapperte es am Guckloch, doch dieses Mal hörte Anaïs es nicht. Sie war wieder eingeschlafen.
Die Schlange näherte sich ihren Lippen.
»Te gusta?«, fragte ihr Vater.
C haplain ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Er überquerte den Boulevard Beaumarchais und ging die Rue du Chemin-Vert und den Boulevard Voltaire entlang zur Place Léon-Blum. Die Kälte hatte die Straßen leer gefegt. Einsame Laternen beschienen den Asphalt. Angesichts der warmen, heimeligen Ausstrahlung der
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