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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Dreizimmerwohnung in Savigny-sur-Orge, die sie auf Kredit gekauft hatte. Kinder hatte sie keine. Ihre bisher einzige wirklich große Liebe war ein verheirateter Mann, der schließlich seine Ehefrau doch nicht verlassen hatte. Nichts Neues also. Seit vier Jahren lebte sie allein und sah mit Grauen ihrem vierzigsten Geburtstag entgegen.
    So viel Freimütigkeit erstaunte Chaplain. Eigentlich war man hier darauf erpicht, sich ins rechte Licht zu rücken.
    Der Gong erklang. Chaplain stand auf und schenkte seiner Gesprächspartnerin ein wohlwollendes Lächeln. Sie antwortete mit einer Grimasse, denn sie hatte ihren Irrtum erkannt. Sie hatte verführerisch wirken wollen, doch stattdessen hatte sie ihr Innerstes entblößt.
    Die Nächste bitte. Sasha hatte das Speed-Dating auf die klassische Art organisiert: Die Damen blieben auf ihrem Platz sitzen, die Herren bewegten sich bei jedem Läuten einen Sitz nach rechts.
    Chaplain landete nun bei einer drallen Brünetten, die sich offenbar für diesen Abend in Unkosten gestürzt hatte. Ihr geschminktes und gepudertes Gesicht glänzte unter ihrer toupierten und mit Haarspray befestigten Frisur. Sie trug eine weite Satinbluse, die ihre Formen kaschierte. Ihre sehr weißen, pummeligen Hände bewegten sich ununterbrochen wie Tauben, die aus dem Zylinder eines Zauberers aufflogen.
    »Ich heiße Nono«, begann er.
    »Diese Nicknames finde ich einfach nur blöd!«
    Chaplain musste lächeln. Die nächste Rebellin.
    »Und wie heißen Sie?«, erkundigte er sich sanft.
    »Vahiné.« Sie prustete los. »Ich sage Ihnen doch, Nicknames sind bescheuert.«
    Das Gespräch entwickelte sich in den üblichen Etappen. Nach dem Stadium der Provokation gingen sie zur Charme-Offensive über. Vahiné bemühte sich, im besten Licht zu erscheinen, und zwar sowohl im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinn. Im Licht der Kerzen nahm sie einstudierte Posen ein, erging sich in hohlen Aphorismen und gab sich geheimnisvoll.
    Nono wartete geduldig auf die nächste Etappe. Er wusste, dass sie binnen kürzester Zeit in einen melancholischen Epilog abgleiten würde. Sie würde mit ihrem Schicksal hadern, weil ihr nur so wenig Zeit blieb, um einen Fremden für sich einzunehmen.
    Interessiert registrierte Chaplain die große Ähnlichkeit dieser Frauen. Der gleiche soziale Status, der gleiche berufliche Werdegang. Die gleichen Erfahrungen mit der Liebe. Und fast dieselben Allüren.
    Er selbst stellte sich nur eine einzige Frage: Was hatte Nono vor wenigen Monaten hier gesucht?
    »Und Sie?«
    »Verzeihung?«
    Er hatte den Gesprächsfaden verloren.
    »Was halten Sie von Fantasie?«
    »Fantasie? Inwiefern?«
    »Im täglichen Leben, ganz allgemein.«
    Er sah sich wieder in den Duschen des Obdachlosenasyls, als man einen Penner mit Wundbrand an ihm vorbeischleifte. Oder beim Tanzen auf dem Motivwagen der Verrückten. Oder dabei, wie er seine Selbstbildnisse in ein Röntgengerät legte, während er gleichzeitig eine Röntgenassistentin mit einer Glock bedrohte.
    »Ja, ich denke, ich habe durchaus Sinn für Fantasie.«
    »Das passt ja gut«, erklärte die Frau. »Ich nämlich auch. Wenn es mich packt, dann geht es echt zur Sache.«
    Chaplain lächelte höflich. Vahinés angestrengte Versuche, witzig und originell zu erscheinen, stimmten ihn traurig. Tatsächlich gefiel ihm an diesem Abend nur eine einzige Frau wirklich. Es war Sasha selbst, eine athletisch gebaute Mulattin mit bemerkenswertem Busen und seltsamen grünen Augen. Doch sosehr er sich auch bemühte, ihr immer wieder verführerische Blicke zuzuwerfen – sie reagierte einfach nicht.
    Wieder erklang der Gong.
    Chaplain stand auf. Vahiné schien überrascht, weil sie gar keine Gelegenheit gehabt hatte, ihm ihr Herz auszuschütten. Denn die Damen liebten es, von sich selbst zu sprechen, was ihm durchaus entgegenkam: Er musste sich weniger anstrengen, über das Thema Nono zu improvisieren.
    Als er das nächste Separee betrat, spürte er sofort, dass er die Frau ihm gegenüber schon einmal getroffen hatte. Er erkannte sie nicht, doch ihre Augen leuchteten auf. Allerdings nur sehr kurz. Dann erloschen sie so rasch wie eine Kerze, die man ausgeblasen hatte.
    Chaplain kam gleich auf den Punkt.
    »Guten Abend. Wir kennen uns doch?«
    Die Frau senkte den Blick auf ihr Glas. Es war leer. Sie winkte dem Kellner, der ihr sofort einen frischen Cocktail brachte.
    »Nicht wahr, wir kennen uns?«, wiederholte er.
    »Mist, dass man hier nicht rauchen darf«, flüsterte sie.
    Er

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