Der Ursprung des Bösen
Sein Atem schimmerte im milchigen Licht der Straßenlaternen.
Die Frau wandte sich nach rechts in die Rue Saint-Antoine. Chaplain beschleunigte den Schritt. Als er die Straße erreichte, war sie bereits auf dem gegenüberliegenden Trottoir, um erneut nach rechts in die Rue de Sevigné abzubiegen. Auch Chaplain überquerte die Fahrbahn. Er hatte die Bar verlassen, ohne sich eine einzige Telefonnummer geben zu lassen. Ihn interessierte nur noch Lulu 78.
»Scheiße«, fluchte er leise vor sich hin.
Sie war verschwunden. Die gerade Straße mit den schönen, alten Stadthäusern aus dem 17. Jahrhundert war leer. Er begann zu rennen. Entweder wohnte sie in einem der Häuser, oder sie war in ihr Auto gestiegen.
»Was willst du?«
Chaplain fuhr zusammen. Sie hatte sich in einer Toreinfahrt versteckt. Er konnte nur die Umrisse ihrer Gestalt erkennen. Die winzige Frau mit Schal und Mütze erinnerte an eine verirrte Schülerin.
»Keine Angst«, sagte er und hob die Hände.
»Ich habe keine Angst.«
In der Hand hielt sie einen Elektroschocker, den sie kurz betätigte. Das Gerät versprühte einen blendenden Blitz. Nur als Warnung.
»Was willst du?«
Er zwang sich zu einem Lachen.
»Das ist doch absurd. Unser Treffen hat nicht das gebracht, was …«
»Ich habe dir nichts zu sagen.«
»Ich dachte eigentlich, dass wir unsere Beziehung da wieder aufnehmen könnten, wo wir …«
»Idiot. Wir sind schon zusammen ausgegangen, aber eben in der Bar hast du mich nicht einmal erkannt.«
Er hatte es sich also doch nicht nur eingebildet.
»Könnten Sie das Ding da vielleicht wegtun?«
Sie wich noch tiefer in ihre Nische zurück. Das Gewölbe der Einfahrt glitzerte vor Kälte. Ihr Gesicht war von einer Dunstwolke umgeben wie von einem bläulichen Heiligenschein.
»Hören Sie«, redete er mit ruhiger Stimme auf sie ein, »ich hatte einen Unfall und habe teilweise das Gedächtnis verloren.«
Er spürte ihre Nervosität. Sie schien ihm nicht zu glauben.
»Es stimmt wirklich. Ich schwöre es. Und es ist auch der Grund, warum ich monatelang nicht zu Sashas Treffen kommen konnte.«
Lulu 78 zeigte keine Reaktion. Noch immer verschanzte sie sich in ihrer Verteidigungshaltung. Aber ihr Verhalten verriet nicht nur Groll. Da war noch etwas anderes. Etwas Tiefergehendes. Eine Angst, die der Situation nicht angemessen schien.
Chaplain wartete. Er hoffte, dass sie sich äußern würde. Gerade wollte er es aufgeben, als sie plötzlich flüsterte:
»Damals warst du ganz anders.«
»Ich weiß«, bestätigte er. »Der Unfall hat mich sehr verändert.«
»Du warst Nono der Witzige. Nono der Charmeur.«
Ihre Stimme klang bitter. Er könnte hören, dass sie ihm böse war:
»Und du hast es nie ernst gemeint.«
»Nicht ernst?« Chaplain blickte sie fragend an.
»Ich habe mit den anderen gesprochen.«
»Welchen anderen?«
»Den anderen Frauen. Eigentlich kommt man zu Sasha, um einen Kerl zu finden. Aber manchmal zieht man mit neuen Freundinnen wieder ab.«
Chaplain steckte die Hände in die Manteltaschen.
»Und wieso soll ich es nicht ernst gemeint haben?«
»Hinter der Fassade war gar nichts. Du hast nie eine von uns auch nur angerührt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wir auch nicht. Du wolltest immer nur Fragen stellen, sonst nichts. Immer nur Fragen.«
»Und worum ging es bei diesen Fragen?«, wagte er sich vor.
»Wir hatten den Eindruck, dass du auf der Suche nach jemandem warst. Ich weiß auch nicht recht.«
»Nach einer Frau?«
Lulu antwortete nicht. Chaplain trat einen Schritt näher. Sie zuckte zurück und schwenkte ihren Elektroschocker. Aus ihrem Mund drang Atemdunst wie das Gespenst ihrer Angst.
»Aber deswegen bin ich doch noch lange kein Monster.«
»Es gibt da gewisse Gerüchte«, gab sie mit dumpfer Stimme zurück.
»Gerüchte? Über mich?«
»Einige weibliche Clubmitglieder sind spurlos verschwunden.«
Chaplain musste schlucken. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Bestimmte Frauen?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt auch keine Beweise.«
»Was genau weißt du darüber?«
Nun duzte er sie auch, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen. Lulu zuckte die Schultern. Die Absurdität dieser Geschichte schien ihr jetzt selbst aufzufallen.
»Wenn wir Mädels unverrichteter Dinge von Sasha kommen, gehen wir manchmal im Anschluss noch einen trinken. Ich weiß nicht, wer von uns diese Sache zum ersten Mal erwähnte, aber dann wurde ständig darüber geredet.«
»Hast du auch mit Sasha gesprochen?«
»Natürlich. Sie
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