Der Ursprung des Bösen
anstelle von Muskeln und Wirbeln. Auch sein Kumpel war jetzt wieder da. Er hatte Brandblasen im Gesicht und im Feuer die Hälfte seines schwarzen Haarschopfs eingebüßt. Schmerzen schien der athletische Ein-Meter-achtzig-Mann jedoch nicht zu verspüren. Chaplain war verblüfft, dass er ihm so lange hatte Kontra bieten können. Der Riese schien nur darauf zu warten, endlich kurzen Prozess mit ihm zu machen.
»Du immer schön reden, Nono. Aber jetzt du uns geben musst, was du schuldig bist.«
Jetzt bestand wirklich kein Zweifel mehr: Nono hatte entweder eine Drogenlieferung oder das zugehörige Geld unterschlagen – vielleicht sogar beides. Möglicherweise war die Ware sogar hier im Loft versteckt. Hatte er seine Krise im Zuge der Lieferung erlitten? Dann allerdings wäre es ein wahres Wunder, dass er noch lebte.
Chaplain bemühte sich um Kaltblütigkeit. Er musste so viel wie möglich über sich selbst erfahren, ehe die Unterhaltung zur Folter mutierte.
»Ich habe dich nicht betrogen, Yussef.«
»Umso besser. Bolje ikad nego nikad . Gib Ware her. Wegen Strafe wir sehen später.«
Der Vorname schien zu stimmen. Der blinzelnde Mann musste Yussef sein.
Aber die Ware? Vermutlich Drogen. Chaplain ließ jede Vorsicht fahren.
»Wie haben wir uns kennengelernt?«
Er warf dem Gorilla einen Blick zu. Der Riese grinste.
»Du sein glupo , kleiner Nono. Ich dich aus Scheiße holen, mein Lieber.«
»Und was heißt das genau?«
»Ich dich gefunden, du nur räudiger Hund gewesen.« Er spuckte auf den Boden. »Ein Penner. Eine Scheiße. Du ohne Papiere, ohne Vergangenheit, ohne Job. Ich dir alles beigebracht.«
»Was denn beigebracht?«
Yussef stand auf. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Offenbar hatte er die Faxen dicke. Seine hohen Wangenknochen warfen Schatten auf die verzerrten Mundwinkel. Sein Dauerlächeln verlieh ihm das Aussehen einer japanischen Maske.
»Das nicht mehr zum Lachen ist, Nono. Gib unsere Sachen, dann wir verschwinden.«
»Aber was denn für Sachen?«, schrie Chaplain.
Der Koloss wollte sich auf ihn stürzen, doch Yussef beschwichtigte ihn mit einer Geste. Er packte Chaplain und hielt ihm den Lauf seiner Waffe direkt vor die Nase.
»Schluss mit Ausrede. Ich keine Geduld mehr, Bruder.«
Zum ersten Mal sah Chaplain die Augen des Bosniers aus der Nähe. Zwischen zwei Wimpernschlägen verengten sich die Pupillen in der kalten blassgrünen Iris.
»Ich kann dir nicht alles jetzt sofort zurückgeben«, bluffte Chaplain.
Yussef zuckte heftig mit dem Kopf, als wollte er seine Tolle aus der Stirn zurückwerfen.
»Du anfangen mit den Pässen. Anderes geht später.«
In diesem Moment fiel es Chaplain wie Schuppen von den Augen. Fälscher! Er war Fälscher. Mit einem Mal bekamen die zwiespältigen Eindrücke aus dem Atelier eine Bedeutung. Die Tatsache, dass der Zeichentisch mit den Skizzen und die Malutensilien wie eine Kulisse wirkten. Er war weder Werbegrafiker noch Künstler, und er führte kein legales Leben: Er fabrizierte Fälschungen.
Deswegen also waren alle Ausländer von Paris hinter ihm her. Clans, Gruppierungen und Netzwerke hatten ihn bezahlt, um Pässe, Personalausweise, Aufenthaltsgenehmigungen und Kreditkarten zu erhalten.
»Du bekommst sie gleich morgen«, versprach er, ohne zu wissen, wie es weitergehen würde.
Yussef ließ ihn los und versetzte ihm einen freundschaftlichen Klaps. In seinem Gesicht zeigte sich wieder eine gewisse Wärme.
»Super! Aber keine Dummheiten. Amar in der Nähe bleibt.« Er zwinkerte ihm zu. »Besser ihm nicht Möglichkeit geben, dass du musst bezahlen für kleinen Scherz von eben.«
Er drehte sich um, doch Chaplain hielt ihn am Arm zurück.
»Wie nehmen wir Kontakt auf?«
»Wie immer. Handy.«
»Ich habe deine Nummer nicht.«
»Du alles vergessen oder was?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Probleme mit meinem Gedächtnis habe.«
Yussef starrte ihn lange an. Misstrauen lag in der Luft wie ein gefährliches Gas. Schließlich nickte der Bosnier leicht, diktierte ihm die Ziffern und fügte ein geheimnisvolles »glupo« hinzu. Zwar ahnte Chaplain, dass es sich um eine Beleidigung handelte, aber Yussef sprach das Wort geradezu freundschaftlich aus.
Die beiden Besucher verschwanden und ließen ihn in seinem verwüsteten Atelier zurück. Er hörte nicht einmal, wie die Tür zufiel. Mit starrem Blick nahm er seine neue Situation in sich auf, wie man einen scharfen Schnaps in sich hineinkippt.
Ihm blieb eine Nacht, um seine Werkstatt zu
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