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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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beugte sich über den von Kerzen erleuchteten Tisch. Im Separee herrschte ein sanftes Halbdunkel. Immer noch wartete er auf ihre Antwort. Schließlich warf sie ihm einen geradezu mörderischen Blick zu.
    »Ich glaube nicht.«
    Ihre Feindseligkeit strafte ihre Worte Lügen, doch er hakte nicht nach, sondern spielte sein Spiel genau wie mit allen anderen.
    »Wie heißen Sie?«
    »Lulu 78«, antwortete sie, nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte.
    Er musste sich ein Lachen verkneifen. Sie nickte.
    »Sehr komisch, nicht wahr?«
    »Und was bedeutet es?«
    »78 ist mein Geburtsjahr.« Sie trank noch einen Schluck. Allmählich wich die Blässe aus ihrem Gesicht. »Immerhin lege ich die Karten auf den Tisch.«
    »Und Lulu?«
    »Das bleibt mein Geheimnis. Jedenfalls heiße ich ganz sicher nicht Lucienne.«
    Die Frau lachte nervös auf und schlug sich die Hand vor den Mund wie eine Japanerin. Sie war extrem zierlich und hatte Schultern wie ein Kind. Ihr rotes Haar ringelte sich um die Schläfen wie der goldene Rahmen einer Ikone. Ihr Gesicht war schmal, und sogar ihre Augen wirkten rötlich. Augen und Augenbrauen waren sehr hübsch, passten aber nicht zum Rest. Die lange Nase und der schmale Mund sprachen für eine gewisse Strenge. Sie trug keinen Schmuck und hatte sich auch nicht in Schale geworfen. Jede Einzelheit legte beredtes Zeugnis davon ab, dass sie nicht freiwillig hier war.
    »Lulu ist auch mein Nickname im Internet«, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu. »Ich benutze ihn so oft, dass er schon fast zu meinem richtigen Namen geworden ist.«
    Ihm fiel auf, dass sie ihn nicht nach seinem Namen fragte. Weil sie ihn kannte .
    Er ging geradewegs auf sein Ziel zu.
    »Was erwarten Sie von diesen Dates?«
    Die Frau musterte ihn kurz von oben bis unten und schien sagen zu wollen: »Als ob du das nicht wüsstest.« Doch dann antwortete sie altklug:
    »Eine Chance. Eine Gelegenheit. Eine Möglichkeit, die mir das Leben bisher verweigert hat.«
    Und wie um ihr Unbehagen zu verbergen, hielt sie einen langen Monolog, in dem sie ihre Auffassung von Liebe, Partnerschaft und dem Leben zu zweit darlegte. Chaplain ging folgsam darauf ein. Sie erörterten das Thema wie etwas Abstraktes, Äußerliches, als hätte es nicht das Geringste mit ihnen selbst zu tun.
    Allmählich entspannte sich Lulu 78. Sie schwenkte das Getränk in ihrem Glas und folgte der Kreisbewegung mit den Augen. Zwischendurch bezweifelte er, dass sie sich schon vorher begegnet waren. Doch dann blitzte im Gespräch immer wieder kurz ein Déjà-vu-Gefühl auf. Wenn das geschah, glaubte er in ihren Augen nicht nur Wut, sondern merkwürdigerweise auch Angst zu erkennen.
    Zwar blieben ihm noch einige Minuten, doch Chaplain interessierte sich nicht mehr für das Gespräch. Er nahm sich vor, dieser Frau draußen zu folgen und sie über ihre gemeinsame Vergangenheit auszufragen.
    »Heutzutage wird es fast wie eine Krankheit angesehen, wenn man Single ist«, erklärte sie gerade.
    »Aber das war doch schon immer so, oder nicht?«
    »Nun, hier werden wir jedenfalls nicht davon geheilt.«
    »Danke, dass Sie mir Mut machen.«
    »Red doch nicht rum. Du …« Sofort bereute sie, dass sie ihn geduzt hatte. »Das glauben Sie doch nicht wirklich. Niemand hier glaubt es.«
    »Wir können uns gern duzen, wenn Sie möchten.«
    Immer noch drehte sie das Glas zwischen ihren Fingern und fixierte es wie ein Orakel.
    »Lieber nicht. Mist, dass man hier nicht rauchen darf.«
    »Rauchen Sie viel?«
    »Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht.«
    Die Antwort war wie eine Ohrfeige. Sie öffnete den Mund, bereit, ihm reinen Wein einzuschenken. In diesem Augenblick erklang der Gong. Man hörte Stühle rücken, Lachen ertönte, und Stoff raschelte. Es war vorbei. Das schmale Gesicht der Frau wirkte nun so gleichmütig wie das Antlitz einer Madonna.
    Chaplain warf einen Blick nach links.
    Ein Mann wartete bereits am Eingang des Separees.

L ulu 78 ging die Rue Saint-Paul hinauf.
Die Luft roch nach Schnee, die Bordsteinkanten glitzerten vom Reif. Jeder Schritt hallte laut in der Straße wider. Chaplain folgte der Frau in etwa hundert Metern Abstand. Es machte ihm Spaß, sie zu beschatten. Und alles hier draußen wirkte so sauber! Der Bürgersteig erschien unter den Bogenlampen wie lackiert. Er hatte den Eindruck, eine Negativ-Version seines Traums von der weißen Mauer und dem dunklen Schatten zu erleben: Die Mauern, an denen er entlangging, waren schwarz, sein Schatten war weiß.

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