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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Orléans, das als Hauptumschlagplatz für alle Arten von Drogen in Île-de-France galt. Ihr war bekannt, dass derart reines Heroin niemals verkauft wurde – schon gar nicht in Bordeaux.
    »Hat die Analyse noch irgendetwas anderes ergeben?«
    »Was meinst du? Vielleicht Name und Adresse des Dealers?«
    Anaïs ging nicht auf diese Stichelei ein.
    »Eins ist jedenfalls sicher«, fuhr Longo fort, »unser Opfer war ein Junkie. Seine Arme habe ich dir ja schon gezeigt, und auch auf den Händen hat er Einstiche. Die Nasenlöcher konnte ich wegen des Zustandes seiner Knochen und Knorpel nicht untersuchen, aber ich glaube, mehr Bestätigung brauchen wir gar nicht. Der Junge kannte sich mit Heroin aus. Nie im Leben hätte er sich diesen Schuss gesetzt, wenn er gewusst hätte, was drin war.«
    Eine Überdosis ist immer ein Unfall. Zwar flirten Drogensüchtige ständig mit dem Tod, doch ihr Überlebensinstinkt hindert sie daran, die Grenze bewusst zu überschreiten. Jemand musste dem Opfer den Stoff also verkauft oder gegeben haben, ohne auf die Risiken hinzuweisen.
    »Der Junge ist erstickt«, fuhr der Gerichtsmediziner fort. »Er zeigt die typischen Anzeichen einer Atemdepression.«
    »Nämlich?«
    »Seine Pupillen sind durch das Heroin und den Sauerstoffmangel verengt. Außerdem habe ich rötlichen Schaum in der Mundhöhle gefunden. Bronchialsekret, das er herausgewürgt hat, als er keine Luft mehr bekam. Und das Herz war fast bis zum Platzen aufgebläht.«
    »Kannst du schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
    »Er ist nicht gestern Nacht, sondern in der Nacht davor gestorben. Die genaue Zeit weiß ich nicht.«
    »Und wieso in der Nacht?«
    »Wieso nicht?«
    Anaïs dachte an den Nebel, der vierundzwanzig Stunden zuvor begonnen und den ganzen Tag lang angedauert hatte. Der Mörder hätte jederzeit tätig werden können, doch die Leiche bei Nacht zu transportieren war aus seiner Sicht wahrscheinlich die sicherere Variante. Der Film von Alain Resnais fiel ihr ein, Nacht und Nebel , einer der erschreckendsten Dokumentarfilme über deutsche Konzentrationslager. Diese Tore, gebaut, um nur einmal durchschritten zu werden. Jedes Mal, wenn sie den Film anschaute – also relativ oft –, musste sie an ihren Vater denken.
    »Mir ist noch etwas ziemlich Merkwürdiges aufgefallen«, fügte Longo hinzu.
    »Und das wäre?«
    »Ich habe den Eindruck, dass ihm Blut fehlt. Der Leichnam ist ungewöhnlich blass. Daraufhin habe ich die Augenschleimhaut, die Lippen und die Fingernägel genauer untersucht. Überall das gleiche Bild: Blutarmut.«
    »Hast du nicht eben gesagt, dass er keine Verletzungsspuren aufweist?«
    »Richtig. Trotzdem glaube ich, dass sein Mörder ihm ein oder zwei Liter frisches Blut abgezapft hat. Unter seinen Einstichen könnten einige von dem goldenen Schuss als auch von einer medizinisch korrekten Blutabnahme stammen.«
    »Die noch zu seinen Lebzeiten stattgefunden hätte?«
    »Auf jeden Fall. Einem Toten kann man kein Blut abnehmen.«
    Anaïs notierte das Detail. Ein Vampir ?
    »Sonst noch Auffälligkeiten an der Leiche?«
    »Alte, zum Teil schlecht verheilte Wunden. Beim Röntgen habe ich Spuren von Knochenbrüchen festgestellt, die noch aus seiner Kinderzeit stammen müssen. Ich habe dir ja schon gesagt: Der Kerl war bestimmt ein Tippelbruder. Als Kind wurde er vermutlich geprügelt und ist später auf die schiefe Bahn geraten.«
    Anaïs dachte an den viel zu mageren, mit Tattoos bedeckten Körper und konnte Longo nur beipflichten. Auch noch etwas anderes sprach für diese Hypothese: Der Junge war nicht als vermisst gemeldet. Entweder stammte er aus einer anderen Gegend, oder niemand vermisste ihn.
    »Hast du irgendwelche Anhaltspunkte für diese Folgerung?«
    »Mehrere. Zunächst war der Junge ausgesprochen schmutzig.«
    »Das sagtest du bereits am Fundort.«
    »Ich meine damit eine Art Dauerdreck. Um die Haut einigermaßen sauber zu bekommen, mussten wir mit einer Chlorlauge arbeiten. Außerdem waren seine Hände sehr rau. Seine rote Gesichtshaut spricht für ein Leben unter freiem Himmel. Flöhe, Läuse und Filzläuse hatte der Knabe übrigens auch. So viele, dass es fast schien, als ob die Leiche sich auf dem Seziertisch noch bewegte.«
    Anaïs wusste nicht recht, ob sie über Longos Art von Humor lachen sollte. Sie stellte ihn sich im Obduktionsraum unter den OP-Lampen vor, wie er mit dem Diktafon in der Hand um die Leiche herumging. Longo war ein früh ergrauter, unauffälliger, unergründlicher

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