Der Ursprung des Bösen
Anaïs sich verändert. Sie trug die Haare jetzt kurz geschnitten und kleidete sich ausschließlich in Jeans, Arbeitshosen und Lederblousons. Ihr zierlicher Körper war der einer Athletin – muskulös und drahtig. Ihre Sprechweise, ihre Wortwahl und ihre Intonation hatten sich verhärtet. Trotz aller Anstrengung jedoch blieb sie ein hübsches junges Mädchen mit sehr weißer, fast kristallklarer Haut und großen, erstaunt dreinblickenden Augen, das geradewegs einem Märchen entstiegen schien.
Umso besser.
Wer würde schon einer Kriminalkommissarin misstrauen, die wie eine Puppe aussah?
Was ihr Liebesleben anging, so hatte sie sich seit ihrer Rückkehr nach Bordeaux in eine anscheinend ausweglose Suche gestürzt. Obwohl sie sich den Anschein einer kleinen Draufgängerin gab, sehnte sie sich nach einer starken Schulter zum Anlehnen und einem muskulösen Körper, der sie wärmen konnte. Doch auch nach zwei Jahren war sie noch nicht fündig geworden. Zu Zeiten des schicken Clubbings war sie eine kühle Verführerin gewesen, doch die Masche der unerreichbaren »Jewish Princess« zog heutzutage keinen Mann mehr in ihren Bann. Und wenn sich doch einmal ein Kandidat in ihren Netzen verfing, konnte sie ihn nicht halten.
Lag es an ihrem Auftreten? An ihren Neurosen, die sie trotz aller Eloquenz nicht ganz verbergen konnte? Ihren allzu nervösen Bewegungen? Ihrem fortwährenden Blinzeln? Oder an ihrem Job, vor dem viele Menschen Angst hatten? Sobald sie sich diese Fragen stellte, zuckte sie mit den Schultern. Jetzt war es ohnehin zu spät, sich noch einmal zu ändern. Sie hatte ihre Weiblichkeit verloren wie andere Frauen ihre Jungfräulichkeit – ohne Aussicht auf Wiederherstellung.
Inzwischen versuchte sie ihr Glück im Internet auf Meetic.
Seit drei Monaten gab sie sich mit beschissenen Verabredungen, langweiligen Unterhaltungen und unglaublichen Spinnern ab, doch die Resultate waren nach wie vor gleich null und eigentlich immer demütigend. Aus jedem Versuch kam sie ein wenig verbrauchter heraus; die Grausamkeit der Männer war doch allzu niederschmetternd. Sie suchte nach Freunden, aber sie traf nur potenzielle Feinde. Sie suchte nach der großen Liebe, geriet aber nur an Widerlinge.
Anaïs hob den Kopf. Ihre Tränen waren getrocknet. Inzwischen hörte sie Right where it belongs von den Nine Inch Nails. Die Wasserspeier der Kathedrale schienen sie durch den Nebel hindurch zu beobachten. Die steinernen Fratzen erinnerten sie wieder an die hinter ihren Computerbildschirmen versteckten Männer, die ihr auflauerten, um sie mit ihren Lügen zu verführen. Medizinstudenten, die in Wirklichkeit bei einem Pizzaservice arbeiteten. Unternehmer, die von Arbeitslosenunterstützung lebten. Singles auf der Suche nach einer verwandten Seele, deren Ehefrau gerade das dritte Kind erwartete.
Fratzen.
Teufel.
Verräter.
Anaïs drehte den Zündschlüssel. Die Lexomil hatte ihre Wirkung entfaltet. Endlich kehrte die Wut zurück, und mit der Wut auch der Hass. Beides waren Gefühle, die sie besser stimulierten als jedes Medikament.
Als sie schließlich losfuhr, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem einschneidenden Ereignis dieser Nacht. Ein Mensch hatte einen anderen Menschen getötet und ihm einen Stierkopf auf den Schädel gesetzt. Plötzlich fühlte sie sich mit ihren Kleinmädchensorgen lächerlich. Verrückt, an solche Dinge zu denken, während ein Mörder frei in Bordeaux herumlief.
Mit zusammengepressten Zähnen fuhr sie weiter in die Rue François de Sourdis. Wenigstens dieses Mal war die nächtliche Bereitschaft nicht umsonst gewesen.
Sie hatte eine Leiche.
Und das war immerhin besser als ein lebendiger Spinner.
G estern hast du mir erzählt, du heißt Mischell.«
»Richtig. Pascal Mischell.«
Freire schrieb sich den Vornamen auf. Ob er nun stimmte oder nicht – es war ein neuer Aspekt. Es war sehr einfach gewesen, den Cowboy in Hypnose zu versetzen. Sein Gedächtnisverlust machte es ihm leicht, sich von der Außenwelt zu lösen. Außerdem spielte noch ein anderer Faktor eine wichtige Rolle: Der Mann hatte Vertrauen zu seinem Psychiater. Ohne Vertrauen ist es unmöglich, sich zu entspannen, ohne Entspannung aber funktioniert keine Hypnose.
»Weißt du, wo du wohnst?«
»Nein.«
»Denk nach.«
Der Koloss hielt sich sehr gerade auf seinem Stuhl. Seine Hände lagen auf seinen Oberschenkeln, und er trug seinen unvermeidlichen Hut. Freire hatte sich entschieden, die Sitzung in seinem Büro durchzuführen, wo er an
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