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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sprechen.
    Also hatte sie im Internet noch einmal den Mythos um den Minotaurus nachgelesen. Sie kannte ihn zwar in groben Zügen, hatte aber längst nicht mehr alle Details im Kopf.
    Alles fing mit der Geschichte von Minos, dem Vater des Ungetüms, an. Minos war ein Sohn der Sterblichen Europa und des Göttervaters Zeus. Er wurde vom König von Kreta an Kindes statt angenommen und folgte ihm auf den Thron der Insel. Um seine Verbindung zu den Göttern zu beweisen, bat Minos den Meeresgott Poseidon, ihm einen schönen Stier zu schicken. Poseidon war einverstanden, allerdings unter der Bedingung, dass ihm der Stier anschließend geopfert würde. Minos hielt sein Versprechen nicht, denn der Stier, der dem Meer entstieg, war so schön, dass er ihn behalten wollte. Poseidon wurde wütend und löste in Minos’ Gemahlin Pasiphae das Verlangen aus, sich mit dem Stier zu vereinen. Sie gebar ein Ungeheuer mit einem Stierkopf und dem Körper eines Menschen: den Minotaurus. Um den illegitimen Sohn zu verstecken, ließ Minos von Daidalos ein Labyrinth bauen, in dem er das Ungeheuer einschloss. Als Tribut für einen verlorenen Krieg mussten die Athener alle neun Jahre sieben Jungfrauen und Jünglinge zum Verzehr für den Minotaurus liefern, bis der Königssohn Theseus sie davon befreite. Mit Hilfe einer Tochter des Minos namens Ariadne drang er in das Labyrinth ein, tötete den Minotaurus und fand mit Hilfe eines Fadens wieder aus dem Labyrinth heraus.
    Bei der Lektüre fiel Anaïs etwas auf: Das Opfer erinnerte nicht nur an das Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, sondern auch an seine Opfer – die jungen Menschen, die ihm geopfert wurden. Der junge Mann mit dem von einem Stierkopf zerquetschten Gesicht war symbolisch vom Minotaurus getötet worden.
    Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, streckte sich und wandte sich von der Mythologie – der Theorie – wieder konkreteren Problemen zu. Fast reines Heroin mit einem Reinheitsgrad von achtzig Prozent. Das war eine ganz besondere Spur. Erinnerungen meldeten sich. Als sie sich nach Orléans beworben und festgestellt hatte, dass ihr Haupteinsatzgebiet die Drogenkriminalität war, beschloss sie einen kleinen Selbstversuch. Sie nahm eine Woche Urlaub, schloss ihren Dienstausweis und ihre Waffe in eine Schublade ein und fuhr in die Niederlande.
    In den Außenbezirken von Amsterdam traf sie sich mit Dealern, die leere Wohnungen vermieteten, in denen lediglich ein niedriger Glastisch stand, auf dem man sich bequem eine Line legen konnte. Vor ihren Augen hatte sie zum ersten Mal geschnupft und sie anschließend gebeten, ihr hundert Gramm des in Plastik eingesiegelten Stoffs zu verkaufen. Mit dem Päckchen ging sie zur Toilette und stopfte es sich tief in den After, so, wie es alle machten, die zurück nach Frankreich fuhren.
    Auch sie war so gereist und hatte dabei das Gift in den Tiefen ihres Körpers gespürt. Danach fühlte sie sich ihrem Job im wahrsten Sinn des Wortes körperlich verbunden. Nicht sie drang in das Milieu ein – es war das Milieu, das in sie eingedrungen war. Sie hatte niemanden verhaftet, weil sie im Ausland keine Befugnis dazu hatte. Aber sie hatte genauso gelebt wie die Junkies und diese Entscheidung bewusst getroffen. Seither übte sie ihren Beruf immer auf diese Weise aus. Involviert bis zum Letzten. Ohne ein anderes, ein privates Leben.
    Es klopfte.
    Vier Kollegen betraten ihr Büro. Da war Le Coz, wie aus dem Ei gepellt und mit Krawatte, als wäre er auf dem Weg zur Kirche. Amar, der von allen nur Jaffar gerufen wurde, war das genaue Gegenstück: unrasiert, wirres Haar und gekleidet wie ein Penner. Conante sah mit seinem Blazer und seiner beginnenden Glatze derart unauffällig aus, dass es fast schon ein Markenzeichen darstellte. Zakraoui, genannt Zak, wirkte mit seinem kleinen Hut eigentlich wie ein trauriger Clown, wäre da nicht die Narbe im Mundwinkel gewesen – sein berühmtes tunesisches Lächeln –, die seinem Gesicht etwas Beängstigendes verlieh. Ihre vier Musketiere. Einer für alle, alle für sie …
    Anaïs verteilte Kopien vom Porträt des Toten und wartete auf Reaktionen. Le Coz verzog das Gesicht. Jaffar lächelte. Conante nickte dümmlich. Zak befingerte misstrauisch den Rand seines Hutes. Anaïs erklärte ihre Strategie. Da man den Mörder nicht identifizieren konnte, würde man zunächst versuchen, etwas über die Leiche zu erfahren.
    »Mit dem Ding hier?«, fragte Jaffar und schwenkte den Abzug.
    Sie berichtete von ihrem Gespräch

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