Der Ursprung des Bösen
Ein weiteres Versuchskaninchen von Mêtis? Ein Mann, den man mit einer Giftspritze getötet hatte? Sicher hätten die Verbrennungen ausgereicht, um die wahre Todesursache zu verschleiern. Allem Anschein nach war die Untersuchung nur flüchtig gewesen. Es gab keinen Grund, an der Identität des Fahrers zu zweifeln. Autokennzeichen, äußere Merkmale, Kleidung, Uhr und die Reste der mitgeführten Dokumente passten zu François Kubiela. Aber warum hatte Mêtis so viel Aufwand betrieben? Glaubten die Drahtzieher, dass das Verschwinden eines bekannten Psychiaters größere Probleme bereiten würde als das der üblichen »Verwirrten«?
Als Nächstes widmete er sich der künstlerischen Seite seines Lebens. Während seines Medizinstudiums hatte Kubiela angefangen zu malen – als Autodidakt; daher also war er bei seiner Crossover-Studie nicht fündig geworden! Ende der 1990er Jahre hatte er der Öffentlichkeit seine ersten Bilder in Gemeinschaftsausstellungen präsentiert. Er war dem Publikum sofort aufgefallen.
Kubiela sah sich im Internet einige seiner Gemälde an. Sie erinnerten entfernt an die Selbstporträts von Narcisse, doch die Themen unterschieden sich. Zwar war er selbst immer Bestandteil des Bildes, doch verlor er sich meist in einer weiten, häufig surrealistisch anmutenden Umgebung wie etwa leeren Plätzen, die an Chirico erinnerten, antiken Stätten oder seltsamen Architekturen jenseits von Raum und Zeit. In diesen Landschaften war Kubiela immer halb von hinten zu sehen, hielt einen Spiegel in der Hand und beobachtete sich aus dem Augenwinkel. Auf diese Weise sah man sein Gesicht zweimal – drei Viertel von vorne und drei Viertel von hinten. Was hatte er mit dieser Mise en abyme ausdrücken wollen?
Die Preise für seine Gemälde waren stetig gestiegen, um nach seinem Tod geradezu zu explodieren. An wen mochte dieses Geld gegangen sein? Wer war sein Erbe? In diesem Zusammenhang fiel ihm Narcisse wieder ein. Merkwürdig, dass niemand den Zusammenhang zwischen den Werken des verrückten Malers und denen Kubielas gesehen hatte, zumal immer die gleiche Person dargestellt wurde. Aber vermutlich unterschieden sich die Vertriebsnetze.
Schließlich wandte er sich seiner Herkunft zu. François Kubiela entstammte einer polnischen Immigrantenfamilie, die in Pantin lebte. Der Vater war Arbeiter, die Mutter Hausfrau, die vermutlich ab und zu auch anderen im Haushalt half, um am Ende des Monats über die Runden zu kommen. Das Paar hatte sich das Geld für das Studium des einzigen Sohnes buchstäblich vom Munde abgespart. Der Vater, Andrzej, war 1999 gestorben. Über die Mutter, Franciszka, sagte der Artikel nichts – man konnte also davon ausgehen, dass sie noch lebte. Dem Bericht zufolge hatte François keine Verbindungen mehr nach Polen, verspürte aber angeblich manchmal noch Sehnsucht nach seiner Kindheit in den Vororten und den einfachen Werten, die seine Eltern ihm vorgelebt hatten. Im Übrigen machte Kubiela nie einen Hehl aus seiner linken Gesinnung, verabscheute allerdings den Kommunismus, was darauf schließen ließ, dass er seine Herkunft nicht vergessen hatte.
Er hörte auf zu lesen, denn plötzlich wurde er sich seines Zustandes bewusst. Er war weder rasiert noch gekämmt und hatte sich eng in seinen Mantel gehüllt, um das zerrissene, von getrocknetem Blut ganz steif gewordene violette Hemd zu verbergen. Dieses Mal hatte er wirklich zwei Tote auf dem Gewissen.
Er holte sich einen Kaffee, denn er fühlte sich angeschlagen, groggy und fiebrig. Aber die Gewalt der letzten Nacht, die Nachricht von seinem eigenen Tod und die Entdeckung seiner wahren Identität konnten selbst den stärksten Mann aus dem Konzept bringen.
Er trank einen Schluck des geschmacklosen, aber glühend heißen Kaffees, der ihn an die Brühe aus den Automaten in Henry-Ey erinnerte. Wie viel Zeit war seit seiner Flucht aus Bordeaux verstrichen? Zwei Wochen? Drei? Und wie viele Leben und Tode hatte er seither durchgemacht? Er setzte sich wieder vor seinen Bildschirm, wo ein Foto von François Kubiela in weißem Kittel und mit schwarzer Haarmähne auf ihn wartete. Er prostete ihm mit dem Kaffeebecher zu.
Irgendwie musste es jetzt weitergehen. Ihm blieb keine andere Wahl. Er hatte sein Schicksal in Kubielas Hände legen wollen, dabei aber nur sich selbst gefunden. Also musste er weiter auf die Jagd gehen.
Zunächst galt es, ein Versteck zu finden. Zwar hatte er Geld, aber er konnte nicht mehr in ein Hotel gehen. Auch seine falschen
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