Der Ursprung des Bösen
Papiere nutzten ihm nichts. Sobald man die beiden Leichen in seinem Loft gefunden hatte, würde sein Name binnen kürzester Zeit in sämtlichen Medien auftauchen.
Da kam ihm eine Idee. Die einfachste überhaupt.
Er würde zu seiner Mutter zurückkehren.
Wer würde schon auf die Idee kommen, ihn bei Franciszka Kubiela, der Mutter eines verstorbenen Psychiaters, zu suchen? Er löschte die Chronik seiner Recherche und klickte das Telefonbuch der Île-de-France an.
Und tatsächlich: In Pantin gab es eine Franciszka Kubiela.
Sie wohnte in der Impasse Jean Jaurès 37.
Der Name sagte ihm nichts. Seine persönlichen Erinnerungen blieben ihm nach wie vor fast komplett verschlossen. Sein Gehirn schien aus Gips zu sein, doch er war daran gewöhnt.
Aber was war mit seiner Mutter? Wie würde sie reagieren? Was würde geschehen, wenn sie ihrem seit einem Jahr tot geglaubten Sohn die Tür öffnete? Würde sie der Schlag treffen?
Und war sie überhaupt noch fit?
Oder würde er auf eine senile Alte stoßen?
Es gab nur ein Mittel, es herauszufinden.
Er packte seine Sachen zusammen und ging zur Tür.
A naïs Chatelet verließ das Frauengefängnis Fleury-Mérogis um zehn Uhr morgens. Die dazu nötigen Formalitäten hatten mehr als vierzig Minuten gedauert. Sie hatte Fragen beantwortet und Papiere unterschrieben. Anschließend hatte man ihr ihre Stiefel, den Blouson, ihre Ausweispapiere und ihr Mobiltelefon ausgehändigt. Im Prinzip war sie jetzt frei, allerdings mit der Auflage, sich am kommenden Montag beim Richter zu melden und Paris nicht zu verlassen. Von diesem Tag an stand sie unter richterlicher Aufsicht. Einmal in der Woche musste sie bei der Wache an der Place des Invalides vorstellig werden, wo man sie festgenommen hatte.
Auf der Schwelle schloss sie die Augen und sog die kühle Luft ein. Schon dieser eine Atemzug schien ihr gesamtes Atemsystem zu reinigen.
Etwa hundert Meter weiter wartete ein Wagen vor dem Wartehäuschen einer Bushaltestelle. Ein schwarzer Mercedes, der an einen Leichenwagen erinnerte. Ihr Vater – halb Großunternehmer, halb General einer Militärdiktatur.
Sie ging auf den Wagen zu. Immerhin verdankte sie ihrem Vater ihre Freilassung. Als sie auf fünf Meter herangekommen war, sprang Nicholas aus dem Auto.
»Mademoiselle Anaïs!«
Der kleine, untersetzte Mann hatte Tränen in den Augen. Manchmal fragte sie sich, wie ein Folterer vom Kaliber ihres Vaters zu einem derart sensiblen Adjutanten kam. Sie küsste Nicholas auf die Wange und ließ sich auf den Rücksitz fallen.
Jean-Claude Chatelet, braun gebrannt und schön wie immer, saß im Fond und erwartete sie.
»Ich nehme an, ich muss mich bei dir bedanken.«
»Nicht, dass ich so etwas von dir erwarten würde.«
Die Tür fiel ins Schloss. Nicholas setzte sich ans Steuer. Sie machten sich auf den Weg zur N 104 in Richtung Paris.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Anaïs ihren Vater, der ein türkises Leinenhemd und einen marineblauen Pullover trug. Er schien direkt von der Brücke seiner Jacht zu kommen.
Tief im Innern war Anaïs froh, ihn hier zu treffen. Ihn wiederzusehen bedeutete, ihrem Hass neue Nahrung zu geben. Mit anderen Worten: ihr Rückgrat zu stärken.
»Hast du wieder eine Botschaft für mich?«
»Dieses Mal ist es ein Befehl.«
»Der Witz ist gut!«
Er öffnete den Behälter im Armpolster, in dem sich Erfrischungsgetränke und eine glänzende Thermoskanne befanden.
»Möchtest du etwas trinken? Kaffee? Cola?«
»Gern einen Kaffee.«
Chatelet schenkte heißen Kaffee in ein mit Rattan eingefasstes Glas ein. Anaïs kostete einen Schluck und schloss unwillkürlich die Augen. Der beste Kaffee der Welt . Aber schnell nahm sie sich wieder zusammen. Auf keinen Fall wollte sie sich durch das vertraute Gift der Wärme, der Sanftheit und der Raffinesse einlullen lassen, das diese Mörderhände ihr anboten.
»Du wirst einige Tage in Paris bleiben müssen«, erklärte der Henker in seiner gepflegten Ausdrucksweise. »Ich habe dir ein Hotel reserviert. Du wirst deinen ›Bewährungshelfer‹ und den Richter aufsuchen. Wir lassen deine Akte nach Bordeaux überstellen, und ich nehme dich mit nach Hause.«
»In deinen Hoheitsbereich?«
»Der ist überall. Du erkennst es daran, dass du in diesem Auto sitzt.«
»Ich bin beeindruckt«, erklärte sie ironisch.
Chatelet wandte sich ihr zu und schaute ihr gerade in die Augen. Sein Blick war hell, verführerisch und bestechend. Glücklicherweise hatte sie die Augen ihrer Mutter geerbt.
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