Der Ursprung des Bösen
Kunstszene betätigt. Was das Privatleben anging, so hatte er offenbar weder Frau noch Kinder, noch nicht einmal eine offizielle Lebensgefährtin. Wenn er allerdings sein Lächeln betrachtete, war er sicher, dass er seine Nächte nur selten allein verbracht hatte.
Die Erinnerungsfetzen, die ihn in Cortos Garten heimgesucht hatten, kehrten wieder zurück. Skilaufen in den Winterferien. Gemütliche Abende in einer Pariser Wohnung. Abenddämmerungen im französischen Süden. Kubiela hatte ein Leben in Glanz und Wohlstand geführt, ohne sich je zu binden oder zu verpflichten. War er ein einsamer Sucher oder ein egozentrischer Jäger gewesen? Wahrscheinlich lag die Antwort irgendwo dazwischen. Auf jeden Fall war Kubiela ein Mann, der sich seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Fähigkeiten sicher sein konnte.
1997.
Seine Doktorarbeit hatte ihn berühmt gemacht. Als Schüler des Kinderpsychologen René Zazzo, der einige Arbeiten über Zwillinge veröffentlicht hatte, beobachtete er über mehrere Jahre hinweg das Verhalten eineiiger Zwillinge. Wie Zazzo richtete er sein Augenmerk auf die Persönlichkeitsentwicklung im Lauf der Jahre und analysierte die unsichtbare Verbindung zwischen ihnen, die sie füreinander empfänglich machte. Kubielas Arbeitsfeld waren Charakterähnlichkeiten, vergleichbare Reaktionen und manchmal sogar telepathische Fähigkeiten, die die Wissenschaft schon seit Jahrhunderten an Zwillingspaaren faszinierten.
Doch bereits bei der Beschäftigung mit Zwillingen wandte sich sein Interesse der Identitätsproblematik zu. Wodurch entsteht Persönlichkeit? Worauf gründet sich der Ich-Begriff? In welcher Beziehung steht die ererbte DNA zur Lebenserfahrung?
Kubielas Schlussfolgerungen hatten die Wissenschaft aufgerüttelt. Ohne Pardon verwarf er nicht nur das Grundprinzip der Psychoanalyse, demzufolge man das ist, was man während seiner Kindheit erlebt, sondern auch das Credo der Neuropsychologie, dass Verhalten und Erleben aufgrund physiologischer Prozesse zu beschreiben und zu erklären sind. Ohne die Berechtigung der beiden Strömungen zu leugnen, verwies Kubiela zur Erklärung der menschlichen Persönlichkeit auf ein geheimnisvolles, angeborenes Etwas, das aus einer höheren, möglicherweise göttlichen Sphäre stamme. Diese Theorie ließ alle wissenschaftlichen und rationalen Erklärungsversuche hinter sich.
Natürlich hatten zahlreiche Stimmen gegen diese »billigen metaphysischen Spekulationen« gewettert, doch niemand konnte die Qualität von Kubielas Studien ernsthaft in Zweifel ziehen. Im Übrigen gestaltete sich seine Karriere in den Kliniken von Villejuif und Sainte-Anne ohne Fehl und Tadel.
Zehn Jahre nach der Veröffentlichung seiner Doktorarbeit schrieb Kubiela ein weiteres Buch, in dem er seine Erfahrungen bei der Arbeit mit Kranken zusammenfasste, die unter multipler Persönlichkeit litten. Auch dieses Buch erregte Aufsehen, weil dieses Syndrom in Europa nicht offiziell als Krankheit anerkannt ist. Hinzu kam, dass Kubiela jede der einzelnen Persönlichkeiten als eigenständiges Individuum anerkannte, anstatt sie wie bisher als Teilstück einer Psychose zu behandeln. Auch in diesem Werk vertrat er die These von einer Art himmlischen Hand, die einem Menschen jede dieser Persönlichkeiten verlieh.
Kein Wunder, dass der Fall Christian Miossens und seine psychische Flucht den Forscher fasziniert hatten. Ihm verdankte er einen völlig neuen Ansatz. Nach den Zwillingen und den Schizophrenen hatte der Psychiater sein Auge auf die »Reisenden ohne Gepäck« geworfen.
Der weitere Ablauf war leicht zu erraten. Kubiela hatte nach anderen Fällen in Frankreich geforscht. Dabei war er auf den Kranken gestoßen, den Nathalie Forestier erwähnt hatte – den Mann aus Lorient. Er hatte eine Verbindung zwischen den beiden Fällen vermutet, hatte gesucht, geforscht und war schließlich auf sasha.com gestoßen. Nachdem er dem Club beigetreten war, hatte er Feliz kennengelernt und war später durch Umstände, die ihm noch nicht klar waren, selbst zum Versuchskaninchen für die Medikamententests von Mêtis geworden.
Natürlich wurden diese Recherchen in dem Artikel mit keinem Wort erwähnt. Man fragte sich lediglich, was der Psychiater mitten in der Nacht auf der Autobahn A 31 zu suchen hatte. Und wirklich – was hatte er dort getan? Darauf gab es keine Antwort, denn er war ja nicht tot.
Noch lange dachte Kubiela über die Inszenierung nach. Wer mochte die verkohlte Leiche im Auto gewesen sein?
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