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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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den Mann an, ohne zu antworten. Der Neuankömmling schenkte ihm ein breites, wohlwollendes Lächeln.
    »Manche Leute kapieren einfach nicht, dass man mal in Schwierigkeiten stecken kann.«
    Freire konnte die Augen nicht von der Verbindungstür zum vierten Wagen abwenden. Vielleicht waren sie in einen anderen Waggon gestiegen … Vielleicht standen sie gleich vor ihm …
    »Sag mal, erkennst du mich eigentlich nicht?«
    Freire erschrak, als der Typ ihn duzte. Erst jetzt betrachtete er ihn genauer. Das Gesicht sagte ihm nichts. War er vielleicht ein ehemaliger Patient? Oder ein Nachbar aus seinem Viertel?
    »Letztes Jahr in Marseille«, fuhr der Mann mit leiser Stimme fort. »In Pointe-Rouge. Das Wohnheim der Emmaus-Gemeinschaft.«
    Mathias begriff. So, wie er im Augenblick aussah, musste der Mann ihn mit einem Obdachlosen verwechseln, dem er in Marseille begegnet war.
    »Daniel Le Guen«, stellte er sich vor und schüttelte Freire die Hand. »Ich habe damals im Wohnheim gearbeitet. Die anderen nannten mich ›Lucky Strike‹, weil ich ziemlich viel gepafft habe.« Er zwinkerte Mathias zu. »Erinnerst du dich jetzt?«
    Endlich gelang es Freire, ein paar Worte hervorzupressen.
    »Tut mir leid, aber Sie müssen sich irren. Ich war noch nie in Marseille.«
    »Dann bist du nicht Victor?« Der Mann beugte sich nach vorn und fuhr in vertraulichem Tonfall fort: »Victor Janusz?«
    Mathias antwortete nicht. Der Name kam ihm zwar bekannt vor, doch er erinnerte sich beim besten Willen nicht, wo er ihn schon einmal gehört hatte.
    »Nein, der bin ich nicht. Mein Name ist Freire. Mathias Freire.«
    »Oh, entschuldigen Sie bitte.«
    Freire blickte forschend in das Gesicht des Mannes, doch das, was er sah, gefiel ihm nicht besonders. Es war eine Mischung aus Mitgefühl und Komplizenhaftigkeit. Der barmherzige Samariter hatte wohl mit einer gewissen Verspätung die Qualität seiner Kleidung erkannt und vermutete nun, dass Victor Janusz sein Glück gemacht hatte und nicht scharf darauf war, an sein unrühmliches Vorleben erinnert zu werden. Aber wo zum Teufel hatte er diesen Namen schon gehört?
    Er stand auf. Der Mann hielt ihn am Arm zurück und reichte ihm eine Visitenkarte.
    »Hier, für alle Fälle. Ich bin ein paar Tage hier in der Gegend.«
    Freire nahm die Karte und las:
    DANIEL LE GUEN
    EMMAUS-GEMEINSCHAFT
    06 17 35 44 20
    Mathias steckte die Karte ein, ohne sich zu bedanken, und setzte sich ein paar Bänke weiter weg. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Er dachte an die beiden Mörder, an Patrick und Sylvie, die vor seinen Augen gestorben waren, und daran, dass man ihn mit jemandem verwechselte.
    Er lehnte die Stirn an die Scheibe und sah zu, wie das Meer sich im Regen auflöste. Er hatte Angst. Lähmende, sengende Angst. Trotzdem entspannte er sich langsam. Der Zug fuhr jetzt mit voller Geschwindigkeit. Das Desinteresse der Passagiere beruhigte ihn. Er würde nach Bordeaux zurückkehren, sich sofort bei der Kriminalpolizei melden und Anaïs alles erzählen. Mit etwas Glück hatte sie vielleicht schon den Halter des Q7 gefunden. Sie würde ermitteln, den Fall lösen, die Mörder verhaften. Und alles wäre wieder in Ordnung …
    Plötzlich fiel ihm der Name Victor Janusz wieder ein. Er erschrak. Wer war dieser Janusz? Seine Gedanken wanderten in eine andere Richtung. Ein unerklärlicher Zweifel überkam ihn. Wie im Zeitraffer liefen die vergangenen Tage vor ihm ab. Woher kam diese Begeisterung, diese Leidenschaft für seinen Patienten Bonfils? Wieso wollte er um jeden Preis herausfinden, wer dieser Mann war? Woher kam diese Entschlossenheit, den Fall zu lösen – koste es, was es wolle? Warum brachte er sich mit aller Macht in diese Geschichte ein, obwohl er beschlossen hatte, auf Distanz zu seinen Patienten zu bleiben? Wieso brachte er so viel Energie auf, um die geistige Verwirrung des Cowboys zu verstehen?
    Seine Zweifel machten alle Sicherheit zunichte. War er vielleicht selbst nicht der Mensch, der er zu sein glaubte? Wenn er nun selbst nur ein »Reisender ohne Gepäck« war? Ein Mann auf einer dissoziativen Flucht?
    Freire zuckte die Schultern und rieb sich das Gesicht. Diese Idee war absurd. Er hieß Mathias Freire und war Psychiater. Er hatte in Villejuif gearbeitet und in Saint-Anne in Paris gelehrt. Er konnte doch nicht an seiner eigenen geistigen Klarheit zweifeln, nur weil ein Unbekannter ihn mit jemand anderem verwechselt hatte.
    Freire blickte auf. Daniel Le Guen zwinkerte ihm zu. Mathias fand diese

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