Der Ursprung des Bösen
hinunter.
Auf der Schwelle blieb er stehen. Sein Blick streifte die Umzugskartons, in denen sich Dinge des täglichen Lebens, Fotos und Erinnerungen an die Vergangenheit befanden. Er riss den Karton auf, der ihm am nächsten stand – und hätte beinahe laut aufgeschrien. Die Schachtel war leer. Hastig griff er nach der nächsten. Schon am Gewicht erkannte er, dass auch dieser Karton leer war.
Ebenso wie der nächste.
Und noch einer.
Alle waren leer.
Verzweifelt sank er auf die Knie und betrachtete fassungslos die braunen, an der Wand aufeinandergestapelten Kartons, zwischen denen er seit zwei Monaten lebte. Alles war nur Betrug. Eine Inszenierung, die eine Illusion von Vergangenheit und Herkunft vermitteln und sowohl andere als auch ihn selbst täuschen sollte.
Freire vergrub den Kopf zwischen den Händen und brach in Tränen aus. Die Wahrheit drohte ihn zu überrollen. Er war also auch eine dieser vielschichtigen Persönlichkeiten. Ein »Reisender im Nebel«.
War er tatsächlich einmal ein Penner gewesen? Oder ein Mörder? Und davor – was war da? Fragen über Fragen wirbelten durch seinen Kopf. Wie zum Beispiel war er zu einem höchst angesehenen Psychiater geworden? Auf welche Weise hatte er seine Diplome erhalten? Ein Satz von Eugène Ionesco kam ihm in den Sinn: »Die Vernunft ist der Wahnsinn des Stärkeren.« Der Mann hatte recht gehabt. Man musste anderen und sich selbst gegenüber nur überzeugend genug auftreten, damit ein Wahn zur Wahrheit werden konnte.
Er trocknete seine Tränen und kramte in den Tiefen seiner Tasche nach seinem Handy. Er brauchte eine Bestätigung. Nur eine einzige. Selbst wenn sie ihm kaum erträglich erschien.
Die Telefonauskunft verband ihn mit der Zentrale der psychiatrischen Klinik Paul-Giraud in Villejuif. Es dauerte kaum eine Minute, ehe sich eine Sekretärin der Verwaltung meldete. Er bat um ein Gespräch mit Doktor Mathias Freire.
»Mit wem bitte?«
Er zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Vielleicht arbeitet er inzwischen nicht mehr bei Ihnen. Aber im vergangenen Jahr war er der leitende Psychiater Ihrer Klinik.«
»Ich bin jetzt seit sechs Jahren hier in der Verwaltung tätig, aber ich habe diesen Namen noch nie gehört. In keiner einzigen Abteilung.«
»Vielen Dank.«
Mit einer knappen Bewegung klappte er sein Mobiltelefon zu. Er litt am gleichen Syndrom wie der Mann mit dem Stetson. Nur dass seine erfundene Identität ein wenig höher angesiedelt war. Er war wie eine dieser russischen Puppen: Wenn man die erste öffnete, fand man eine kleinere. Und so weiter, bis hin zur allerkleinsten. Und nur diese existierte wirklich.
Aber es wurde noch viel schlimmer.
Victor Janusz, ein Obdachloser, der in Marseille wegen einer Schlägerei festgenommen worden war, wurde verdächtigt, in Bordeaux einen Mord begangen zu haben. Was war in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar am Bahnhof Saint-Jean geschehen? Hatte er etwa nicht in der Klinik geschlafen? War er nicht im Bereitschaftsdienst gewesen? Es gab doch Zeugen! Er hatte Rezepte ausgestellt! Er hatte den Sicherheitsmann am Tor bei seiner Ankunft begrüßt und sich bei Dienstschluss verabschiedet. Aber war er vielleicht im Verlauf der Krisis heimlich im Nebel zum Bahnhof geschlichen? Hatte er möglicherweise unterwegs Bonfils getroffen? Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Zwei Menschen mit Gedächtnisverlust, die einander begegneten und sich nicht wiedererkannten …
Er stopfte seine Ausweispapiere in eine Aktentasche, nahm seinen Laptop, der alles enthielt, was er in den vergangenen zwei Monaten über seine Patienten aufgezeichnet hatte, hängte sich beides über die Schulter und ging, ohne auch nur die Tür hinter sich abzuschließen.
Fünfhundert Meter weiter, am Rand des Universitätsgeländes, winkte er einem Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse der Kriminalpolizei. Es war Zeit, dass er seine Schulden bezahlte. Hinter ihm lagen anderthalb Monate Betrug und Lügen. Jetzt gab es nur noch eins zu tun: Anaïs Chatelet alles zu erklären, sich in seine eigene Anstalt einweisen zu lassen und endlich zu schlafen.
Er sehnte sich danach, im Schlaf alles zu vergessen und in der Haut eines anderen Menschen zu erwachen. Danach, endlich er selbst zu sein. Selbst wenn ihm das Handschellen bescherte.
H auptkommissarin Chatelet ist nicht da.«
Vor ihm stand ein Schönling in einem tadellosen Anzug.
»Kann ich auf sie warten?«
»Worum geht es?«
Freire zögerte. Es gab so viel zu sagen, dass er beschloss,
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