Der Ursprung des Bösen
Höchststand erreicht. Unruhige Wellen spülten über den dunklen Strand zu seiner Linken. Die schmutzigen Schaumfetzen der Gischt erinnerten Freire an grauen, mit einer Krankheit infizierten Speichel. Das Meer schimmerte manchmal schwarz, manchmal bräunlich grün; seine Oberfläche erinnerte an die blasige, aufgeworfene, feucht glänzende Haut einer Kröte.
Das Boot lag vor Anker, doch der Riese mit dem Stetson war nicht da. Freire blickte auf die Uhr. Es war zehn. Zwischen den aufs Trockene gezogenen Schiffsrümpfen, aufgerollten Netzen und umgelegten Masten auf der Mole war keine Menschenseele zu entdecken. Lediglich ein kleiner Laden für Angelbedarf hatte geöffnet. Freire erkundigte sich beim Inhaber, der ihm riet, einfach zu den Bonfils zu fahren. Das kleine, einen Kilometer entfernte Haus liege gleich oberhalb des Strandes und sei nicht zu verfehlen.
Mathias stieg wieder in den Volvo. Allmählich wurde er unruhig. Er musste an seine Verfolger denken. Die Männer in Schwarz waren gleichzeitig mit Patrick Bonfils aufgetaucht und interessierten sich offenbar für das, was der Cowboy ausgeplaudert hatte. Freire schloss daraus, dass er selbst in Gefahr schwebte, doch das Wichtigste hatte er noch nicht bedacht: Wenn es sich wirklich so verhielt, dann galt es umso mehr für Patrick Bonfils. Plötzlich machte er sich Vorwürfe, dass er den Riesen entlassen hatte. In seiner Zelle in der Klinik wäre der Mann ohne Gedächtnis in Sicherheit gewesen.
Das Haus oberhalb des Strandes kam in Sicht. Es war ein einfacher Betonklotz, auf dessen Dach ein Thunfisch aus Holz prangte. Freire ließ den Wagen an einem Erdwall stehen und wanderte mit den Händen in den Taschen und hochgeklapptem Mantelkragen auf das Haus zu. Es begann zu regnen. Links von ihm trennte eine Bahnlinie die anderen Häuser vom Meer und den Stränden. Zu seiner Rechten zog sich Buschwerk bis zum Wasser hinunter. Niedrige Seekiefern, gelb blühender Ginster und violettes Heidekraut tanzten im Wind.
Er klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte erneut. Wieder vergeblich. Seine Unruhe wuchs. Schließlich umrundete er das Häuschen und blickte zum Meer hinunter. Mit einem erleichterten Lächeln entdeckte er das Paar am Fuß der kleinen Anhöhe. Patrick Bonfils saß im Schneidersitz auf einem Felsblock und reparierte ein Netz. Sylvie, in einen Anorak gehüllt, schlenderte in ihrem typisch schwankenden Gang am Meer entlang.
Wenige Minuten später begrüßte Freire die kleine Frau.
»Was wollen Sie denn hier?«
Er war offenbar alles andere als willkommen. Und mit einem Mal verstand er, warum. Die Frau wusste Bescheid. Sie hatte es immer gewusst. Die Flucht des 13. Februar war nur eine unter vielen gewesen.
»Sie haben mir gestern nicht die Wahrheit gesagt.«
»Die Wahrheit?«
»Patrick ist nicht Patrick. Auch diese Persönlichkeit ist schon das Ergebnis einer dissoziativen Flucht. Die Geschichten von seiner ersten Frau, seinem Vater, der angeblich im Säurebecken den Tod gefunden hat, der Fremdenlegion – all das ist Müll, und das wissen Sie seit Langem.«
Sylvie verzog das Gesicht.
»Ja und? Hauptsache, wir sind glücklich.«
Freire sah ein, dass er behutsamer vorgehen musste. Ohne Sylvies Hilfe würde er der Wahrheit nie auf den Grund kommen.
»So einfach ist das nicht«, sagte er sanft. »Patrick ist krank, das können Sie nicht leugnen. Und er wird krank bleiben, wenn man ihn in seiner Lüge leben lässt.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie wollen.«
Mathias las die Angst auf dem Gesicht der Frau. Sie fürchtete sich vor der Wahrheit. Und sie fürchtete sich vor Patricks tatsächlicher Vergangenheit. Warum? Nun, vielleicht hatte der Cowboy Kinder, Ehefrauen oder Schulden. Oder – und das wäre für sie vielleicht noch schlimmer – einen kriminellen Hintergrund.
»Sollen wir ein paar Schritte laufen?«
Ohne ein Wort ging Sylvie an ihm vorbei und folgte den unregelmäßigen Linien, die die Wellen auf dem Strand hinterließen. Freire blickte zu Patrick hinüber, der ihn inzwischen entdeckt hatte und freundlich winkte, ohne jedoch sein Netz loszulassen. Dieser Mann war ganz bestimmt unschuldig.
Freire holte Sylvie ein. Seine Füße sanken im dunklen Sand ein. Über ihnen flogen Vögel in Slalomlinien durch den Regen. Möwe und Kormoran waren die einzigen Namen, die Mathias einfielen. Ihre heiseren Stimmen erhoben sich über das Donnern der Wellen.
»Ich will nicht, dass man Patrick etwas antut.«
»Ich muss ihm aber Fragen stellen. Ich muss
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