Der Väter Fluch
einfach zwei Gläser, für alle Fälle.« Jaime verließ den Raum.
»Wo soll ich mich denn hinsetzen?«
»Wo du willst«, antwortete Decker.
Der Junge blickte sich um und entschied sich dann für die Couch. »Sind Sie wirklich Rechtsanwalt?«
»Ja.«
»Und warum sind Sie dann Cop geworden?« Ernesto sah zu Boden. »Eigentlich geht es mich ja nichts an...«
»Der Job gefällt mir«, meinte Decker und zog sein Notizbuch aus der Tasche.
»Ich hab mal so einen Dokumentarfilm gesehen... über Cops. Wenn sie aus dem Dienst ausscheiden, fällt es ihnen schwer, sich wieder in die zivile Welt zu integrieren. So nennen Sie es doch, oder?« Er suchte in Deckers Gesicht nach einer Bestätigung, aber der zeigte keine Reaktion. »Na, auf jeden Fall sagte der Moderator oder Erzähler auch irgendwas darüber, dass alle Cops Adrenalinjunkies wären... und dass sie die normale Welt fürchterlich langweilig fänden im Vergleich zu dem, woran sie gewöhnt wären. Ein hoher Prozentsatz würde Selbstmord begehen. Weil sie so vom Adrenalin abhängig sind wie andere von Drogen.«
»Bist du drogenabhängig?«, fragte Decker.
Ernesto zuckte die Achseln. »Nö. Drogen sind nur was zur Entspannung. Damit man was zu tun hat, weil die Partys so verdammt langweilig sind.«
»Hast du deshalb die Synagoge verwüstet? Aus Langeweile?«
Jaime Dahl betrat den Raum mit einer Flasche Evian und zwei Gläsern. »Sonst noch etwas?«
»Nein, danke.« Decker gelang es nicht, seiner Stimme die Schärfe zu nehmen. Am liebsten hätte er gesagt: Hauen Sie endlich ab!
Dahl begriff. »Ich werde im Lehrertrakt warten.«
»Wo sind meine Eltern?«, fragte Ernesto. »Bei Doktor Williams.«
»Mr. Melrose auch?«
»Ja.«
»Wann immer du aufhören und deine Eltern oder den Anwalt etwas fragen willst, lass es mich wissen«, sagte Decker.
Ernesto holte tief Luft und stieß sie geräuschvoll aus. »Alles okay. Ich schaff das schon.«
Keiner sagte etwas. Dann meinte Jaime: »Ich gehe dann mal.«
Decker lächelte. Er lächelte auch noch, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, und wartete darauf, dass der Junge zu reden begann. Er versuchte, Augenkontakt herzustellen. Ernesto schaute ein paar Sekunden lang nach hinten; dann richtete er seinen Blick auf andere Dinge im Raum: den Bildschirmschoner der Computer, den Süßwarenautomaten, das hässliche Landschaftsgemälde an der Wand. Ernestos Haltung war lässig, aber die Ader an seiner Schläfe pulsierte, und er schob nervös seinen Unterkiefer vor. Er wirkte kein bisschen mehr arrogant. Ganz im Gegenteil - Er- nesto sah besorgt aus... und ängstlich.
»Eigentlich ist das gut so.«
»Was meinst du?«, fragte Decker.
»Sie und ich hier. Ich möchte nicht, dass meine Eltern oder ihr Anwalt in allen Einzelheiten erfahren, was passiert ist.«
»Ihr Anwalt ist auch dein Anwalt. Du wirst ihm alles sagen müssen.«
»Das werde ich, aber auch er muss nicht alle Einzelheiten erfahren. Ich meine, er braucht natürlich Einzelheiten, aber nicht alle...« Ernesto suchte nach Worten. »Ausführlichen Einzelheiten?«, schlug Decker vor.
»Ja, genau. Ich werde sie Ihnen erzählen, und vielleicht können Sie es in die richtige Form bringen.«
»Du kannst sie deinem Anwalt so präsentieren, wie du willst.«
»Schließlich ist ja niemand verletzt worden, stimmt's?«
»Ja. Das stimmt.«
»Meinen Sie, wir könnten uns etwas einfallen lassen?«
»Das weiß ich erst, wenn ich gehört habe, was du zu sagen hast.«
»Und wenn uns nichts einfällt?«
»Dann bist du auch nicht schlimmer dran als vor ein paar Minuten.«
Ernesto faltete die Hände im Schoß; Schweiß glänzte auf seiner breiten Stirn. »Ich bin nicht übergeschnappt. Ich weiß, dass Sie glauben, ich wäre es, aber das stimmt nicht. Trotz allem, was ich getan hab, bin ich nicht sauer auf meine Eltern oder so was. Mein Leben ist okay. Ich hasse meine Eltern nicht. Ich habe Freunde. Ich bin nicht drogenabhängig, auch wenn ich ab und zu mal was rauche. Ich bin einer der Besten in der Klasse und ein guter Sportler. Ich hab jede Menge Taschengeld und eine eigene Karre...« Schweigen.
»Aber du langweilst dich«, sagte Decker.
»Nicht wirklich.« Der Junge leckte sich die Lippen. »Ich hab dieses Problem. Ich brauche Hilfe.«
Niemand sagte etwas. Dann meinte Decker: »Willst du damit andeuten, ich soll dem Richter vorschlagen, dich anstelle einer Strafe in psychiatrische Behandlung zu schicken?«
»Nein, ich will ja gemeinnützige Arbeit leisten. Ich hab's
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