Der Väter Fluch
Baldwin. Vielleicht aber auch auf Ernesto.«
»Aber warum Ernesto?«, fragte Tarpin. »Der ist doch noch ein Kind.«
»Erlauben Sie mir die Gegenfrage, Mr. Tarpin. Warum Baldwin?«
»Weil die Baldwins auch schon mit Jugendlichen zu tun hatten, die wirklich gefährlich sind - richtige Psychopathen, mit diesen kalten Froschaugen, wie man sie von Heckenschützen kennt. Die Baldwins haben wirklich alles versucht, aber manchen von den Jungs ist einfach nicht mehr zu helfen.«
»Aber warum sollte jemand ausgerechnet hier oben in den Bergen einen Mord begehen? Unzugängliches Gelände, kaum Fluchtmöglichkeiten und dazu noch jede Menge Zeugen und potenzielle Gegner.«
»Kein Problem für jemand, der ein Survivaltraining hinter sich hat.«
»Wollen Sie damit sagen, der Täter müsste ein Absolvent dieses Camps gewesen sein?«
»Schon möglich.« Tarpin sah ihn an. »Warum glauben Sie denn, dass der Mörder es auf Ernesto abgesehen hatte?«
Decker zögerte. Was konnte er sagen, ohne zu viel zu verraten? »Ich bin bis heute davon überzeugt, dass Ernesto bei der Sache mit der Synagoge nicht allein war. Ich könnte mir denken, dass er vielleicht in üble Gesellschaft geraten ist, ein schlechtes Gewissen bekommen hat und deshalb von ein paar Neonazis verfolgt worden ist.« Decker tippte wieder mit dem Stift gegen sein Notizbuch. »Hat er Ihnen gegenüber jemals ein Mädchen namens Ruby Ranger erwähnt?«
Tarpin starrte wieder unbeteiligt ins Leere. »Ernesto hat ab und zu von ihr erzählt. Hörte sich nach einem ziemlichen Miststück an.«
»War sie schon mal bei den Baldwins in Behandlung? Oder nehmen die beiden gar keine Mädchen als Klienten an?«
»Sie nehmen jeden an, der ihre Hilfe braucht. Von Ruby Ranger weiß ich nichts.
Warum sehen Sie nicht einfach in den Akten nach?«
»Dafür brauche ich einen Durchsuchungsbefehl.«
»Dann holen Sie sich doch einen.«
»Halten Sie das Mädchen für verdächtig, Corporal?«
»Allerdings.« Er spuckte auf den Boden. »Früher haben Mädchen höchstens mal Gras geraucht oder einen Scheck gefälscht. Aber heutzutage sind sie genauso schlimm wie die Jungs. Und das nennt sich dann Fortschritt.«
18
Es war schon bei hinreichendem Verdacht schwer genug, einen Durchsuchungsbefehl für einen Verdächtigen zu bekommen -aber ein Durchsuchungsbefehl für Krankenakten ließ sich so gut wie unmöglich begründen, solange einer der beiden behandelnden Ärzte noch lebte. Die Stunden schleppten sich dahin, und Decker entschloss sich, ein Team nach Beverly Hills in die Praxis der Baldwins zu schicken, um wenigstens gesprächsweise an ein paar mehr Informationen zu gelangen. Martinez durchkämmte die Strandhäuser von Malibu nach Dee. Tom und Wanda waren noch am Tatort beschäftigt, also erhielten Scott Oliver und Marge Dunn den Auftrag, ihren Charme spielen zu lassen.
Die beiden wirkten nicht besonders begeistert.
Oliver saß auf dem Beifahrersitz, als sie auf dem Freeway über den Hügel fuhren, und versuchte, seinen Ärger nicht an Marge auszulassen. Er war schlecht gelaunt, denn er hasste Wichtigtuer, und Leute mit einer Praxis in Beverly Hills waren normalerweise maßlos von sich eingenommen - man könnte auch sagen erfolgreich. Scott vermutete, dass Decker ihm diesen Auftrag mit Absicht zugeschanzt hatte, weil der Lieutenant immer noch sauer war wegen Olivers allzu kurzer Beziehung mit dessen Tochter Cindy. Dabei hatte sie schließlich ihm den Laufpass gegeben und kletterte inzwischen unaufhaltsam die Karriereleiter des LAPD empor. Und dabei hatte er die furchtbaren vierzig und damit den Zenit seiner beruflichen Laufbahn schon vor zehn Jahren überschritten. Nein, den ganzen Mist konnte er getrost vergessen. Oliver gelangte zu der Einsicht, dass Decker ihn nur deshalb nicht leiden konnte, weil er besser aussah und jede Frau haben konnte, die er wollte...
Marge unterbrach seine Tagträume. »Ich habe mit einer von Mrs. Baldwins Partnerinnen in der psychologischen Praxis telefoniert. Sie heißt Maryam Estes.« Sie zupfte einen Fussel von ihrer marineblauen Hose aus Leinen-Polyester-Gemisch, die zwar ein bisschen knittern, aber dabei immer noch vorzeigbar aussehen sollte. Das Knittern klappte auch ganz vorzüglich, mit dem Vorzeigen war es schon schwieriger. Dennoch passte der dunkle Stoff ganz gut zu ihrer hellen Haut, ihren braunen Augen und ihren dünnen aschblonden Haaren. Zu der Hose trug sie ein blaues Leinenhemd, eine passende blaue Jacke und praktische, aber elegante
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