Der Vater des Attentäters (German Edition)
Handschrift meines Sohnes sah mich an und machte mich leicht benommen.
«Haben Sie es gelesen?», fragte ich.
«Ich habe es durchgesehen. Es gibt keine rauchenden Colts, und er schreibt nicht tausendmal: ‹Muss Senator Seagram umbringen› oder: ‹Bin mit geheimen Verschwörern Zug gefahren.› Es finden sich auch keine Zeichnungen von enthaupteten Männern oder übergroßen Tierpenissen.»
«Was ist es also?»
«Ein Tagebuch. Danny fängt in Austin an, blickt aber auch zurück und schreibt über seine Zeit in Iowa. Die Teile über Montana sind nur schwer zu verdauen, also über die Zeit, die er damit zugebracht hat, in Seagrams Leben herumzuschnüffeln, und wie er das Haus besucht hat, in dem Seagram aufgewachsen ist. Ich meine, wenn man es heute liest und weiß, was er getan hat … Ernsthaft, einiges davon hat mir die Nackenhaare aufgestellt.»
Ich starrte auf die Seiten. Vor drei Wochen hatte ich Danny zum ersten Mal allein besucht. Nachdem es mit Alex’ Nachtängsten schlimmer geworden war, hatten wir beschlossen, unsere Familienbesuche einzustellen und den Kindern Zeit zu geben, um zur Ruhe zu kommen. Ich hatte Fran versprochen, auch selbst eine Auszeit zu nehmen, es aber nicht getan. Im Gefängnis angekommen, war ich durch die Metalldetektorschleuse gegangen, hatte die Arme für die Sonden gehoben, meine Taschen entleert und die Schuhe ausgezogen. Ich passierte wie gewohnt die eisernen Gatter und schweren Stahltüren. Der Wartebereich war nur halb gefüllt.
Ich setzte mich auf einen der Plastikstühle, wohl wissend, dass sich die Besucher in Gefängnissen nicht gerne in die Augen sehen. Wir wollen nicht zugeben, warum wir hier sind, wollen die Verbrechen nicht eingestehen, derer unsere Verwandten fähig sind. Das ist keine Verlegenheit, sondern Scham, tiefe, biblische Scham. Also halten wir den Blick auf den Boden gerichtet und lauschen voller Neid dem sorglosen Lachen der Kinder, die noch nicht gelernt haben, wie wir zu fühlen.
Als ich an die Reihe kam, setzte ich mich auf meinen Platz in der engen Besuchskabine. Das Plexiglas vor mir war drahtverstärkt. Bei meinem ersten Besuch mit der Familie hatte ich ein Handdesinfektionsmittel dabei gehabt, später dann begriff ich, dass ich mir im Gefängnis nichts Schlimmeres holen konnte als das, was ich bereits hatte: einen verurteilten Mörder zum Sohn. Also machte ich mir nicht mehr die Mühe.
Ein Wärter brachte Daniel herein. Er setzte sich mir gegenüber. Er war blass und hatte sich während der letzten sechs Wochen einen Bart wachsen lassen. Es war der etwas ungleichmäßige Bart eines jungen Mannes, einen richtigen Vollbart würde er wohl nie bekommen. Daniel war ein heller Typ mit einem weichen Gesicht. Der Bart ließ ihn aussehen wie einen Kleinstadt-Methadon-Abhängigen.
«Es ist an der Zeit», sagte ich zu ihm.
«An der Zeit für was?»
«Ich will es dich sagen hören.»
Er starrte mich unverständig an.
«Ob du es warst», sagte ich. «Ob du ihn erschossen hast. Ich muss es von dir selbst hören.»
Er starrte mich an. Mir wurde bewusst, dass ich schwitzte. Männer mit Schlagstöcken bewachten die Ausgänge. «Ich habe keine Antworten für dich», sagte er nach einem langen Schweigen.
«Danny.»
Er rieb sich wütend die Nase. «Weißt du, es ist okay, wenn du herkommen willst. Wenn du mich besuchen willst. Aber über diese Dinge werde ich nicht mit dir reden. Ich werde mich nicht erklären.»
«Daniel.»
Er sah mich an. Was konnte ich sagen, um die Kluft zwischen uns zu überbrücken? Um ihn zu überzeugen, dass ich auf seiner Seite war?
«Ich weiß von Cobb und Hoopler», sagte ich. «Den Männern im Zug. Wenn sie damit zu tun hatten … wenn sie dich dazu gebracht haben …»
Er schloss die Augen. «Wir sind hier fertig.» Ohne die Augen zu öffnen, signalisierte er dem Wärter, er solle ihn holen.
«Warte», sagte ich mit Panik in der Stimme.
Er stand auf, die Augen immer noch geschlossen.
«Was haben sie dir versprochen?», sagte ich. «Warum tust du das?»
Er öffnete die Augen und sah mich an. «Komm nicht wieder her.»
Der Wärter näherte sich. Daniel drehte sich um.
«Daniel, bitte», sagte ich. «Daniel.»
Ich hatte ihn durch die Stahltür verschwinden sehen und war so lange dort sitzen geblieben, wie sie mich ließen. In der Hoffnung, er käme zurück. Aber er war nicht zurückgekommen.
Am nächsten Tag meldete ich mich in der Arbeit krank. Ich saß noch einmal eine Stunde im Warteraum, bis ein Wärter mir
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