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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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Kopf.
    «Wollten sie nicht bleiben, wenigstens zum Essen?»
    «Nein. Er sagte, sie wollten in Vail Sushi essen.»
    Lächelnd schüttelte sie den Kopf und küsste mich auf die Wange. «Ich gehe joggen», sagte sie.
    Sie machte sich fertig, und als sie fort war, brachte ich lange nicht den Mut auf, die Schublade mit dem Tagebuch meines Sohnes zu öffnen. Ich musste mich förmlich heranschleichen, machte mir vor, dass ich mir nur ein Glas Wasser holen wollte, und bewegte ich mich seitwärts durch die Küche. Die Bedeutung dieses Tagebuchs wog viel zu schwer. Es hatte die Macht, mein Leben zu zerstören. Eine Weile stand ich da und hielt den Griff der Schublade umfasst. Ich stand an einer unsichtbaren Grenze. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich wusste, dass sie da war. Wenn ich die Schublade öffnete, wenn ich das Tagebuch las, dann würde ich nicht mehr länger so tun können, als hätte ich mein altes Leben abgestreift.
    In der Schublade lag womöglich das Ende meiner Familie. Das Ende von allem.
    Aber sie enthielt auch die Wahrheit.
    Ich öffnete sie. Der Name starrte hoch zu mir: Carter Allen Cash.
    Ich schloss die Schublade wieder. Ich war noch nicht so weit. Aber ich konnte sein Tagebuch da auch nicht liegen lassen. Es fühlte sich falsch an, abartig, es auch nur im Haus zu behalten. Also öffnete ich die Schublade wieder, packte die Seiten und lief damit zum Auto. Ich versteckte sie im Kofferraum und knallte die Klappe so schnell zu, als hätte ich Angst, etwas könnte daraus entkommen.
    Während der nächsten Tage, wohin immer ich ging, was immer ich tat, spürte ich das Tagebuch dort hinten im Wagen. Es rief nach mir. Ich überlegte, ob ich irgendwohin fahren und es dort lesen sollte, aber um ehrlich zu sein, es wäre immer noch zu nah an zu Hause gewesen. Ich glich einem Mann, der zu verbergen versuchte, dass sich bei ihm eine Affäre anbahnte – nur dass ich meine Frau nicht mit einer anderen betrügen wollte, nein, ich hatte das Gefühl, wenn ich das Tagebuch las, würde ich meine neue mit meiner alten Familie betrügen.
    Ich versuchte, die Seiten zu ignorieren, zu vergessen, aber es ging nicht.
    Also suchte ich einen Vorwand, um zu verreisen.
    Ein paar Monate zuvor war ich eingeladen worden, auf einem Medizinerkongress in Austin einen Vortrag über das Kawasaki-Syndrom zu halten. Ich hatte damals abgelehnt, beschloss jetzt aber, doch hinzufahren. Es kam mir wie ein Wink des Schicksals vor. Austin war einer der Orte, in denen mein Sohn auf seiner Reise haltgemacht hatte. Austin war wahrscheinlich von zentraler Bedeutung für die Wandlung seiner Persönlichkeit gewesen. Dort wollte ich hinfahren und das Tagebuch lesen. Diese eine letzte Reise wollte ich machen, um mich von meiner Obsession zu befreien, sie noch einmal richtig zu hegen und dann abzutrennen wie ein Körperglied, das schwarz geworden war und zu stinken begann.
    Und so stand ich zehn Tage nach Murrays Besuch im Schlafzimmer und packte meinen Koffer. Früh am nächsten Morgen wollte Fran mich zum Flughafen bringen. Wir sprachen auf der Fahrt darüber, dass die Dachrinnen gereinigt werden müssten. Sie fragte, ob ich rechtzeitig zu Alex’ Fußballspiel am Freitag zurück sein würde. Ich versicherte es ihr, meinte, es werde nur zwei Tage dauern. Sie sagte, sie finde es schrecklich, wenn ich nicht da sei, dann wisse sie nie, wann sie ins Bett gehen solle. Ich antwortete, elf sei doch eine gute Zeit. Wir küssten uns im Auto vor dem Abflugterminal, und sie schlug halb scherzend noch einen Quickie im Parkhaus vor. Ich sagte, ich wolle meinen Flug lieber nicht verpassen, stieg aus und holte meinen Koffer hinten aus dem Wagen.
    Der Flug dauerte nicht lange, knapp über eine Stunde. Ich hätte auch mit dem Auto fahren können, aber Fran wollte mich nicht so lange hinter dem Steuer wissen. Am Flughafen von Austin sog ich die Luft ein. Ich suchte nach feinen Unterschieden, nach einem Hinweis darauf, dass dieser Ort anders war als all die anderen Orte, an denen ich bisher gewesen war. Mein Fahrer holte mich am Gepäckband ab. Er nahm den Highway 71 zur South Congress Avenue und bog dann nach Norden ab. Wir kamen über den Lady Bird Lake, und der Fahrer erzählte, dass von Mai bis September in der Abenddämmerung Millionen Flughunde unter der Congress Street Bridge auftauchten und wie ein Rauchwolke in den Himmel waberten. Er setzte mich am InterContinental ab. Ein Page nahm meinen Koffer.
    Ich legte mich auf das Bett in meinem Zimmer und starrte die Decke

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