Der Vater des Attentäters (German Edition)
obwohl er mich noch nie gesehen hatte. Und ich kannte ihn. Er war die Liebe, die ich mein ganzes Leben lang auszudrücken versucht hatte.
Mit zwei Jahren bekam Daniel starkes Fieber, das ihn drei Wochen nicht losließ. Es war ein hartnäckiges, böses Fieber, erbarmungslos, zermürbend, ein übermächtiges Feuer, das sich mit Medikamenten zwar etwas eindämmen, aber nicht löschen ließ. Jeden Tag hofften wir, es würde aufhören, und jeden Tag stieg die Temperatur wieder unmöglich hoch, auf vierzig, einundvierzig Grad. Ich war immer noch in der Facharztausbildung, ein junger Mediziner mit nicht allzu viel Erfahrung. Dannys Krankheit ließ mir keine Ruhe. Ich fragte Kollegen aus, durchforstete medizinische Zeitschriften, und je länger das Fieber andauerte, desto schlimmer wurden die Szenarien, die ich mir in meinem Kopf ausmalte: Leukämie, Epstein-Barr, Meningitis. Ellen und ich schleppten Daniel von einem Spezialisten zum anderen. Die Ärzte nahmen ihm Blut ab, sahen ihm in die Ohren und in die schreiende Kehle. Danny war zu klein, um zu verstehen, was da mit ihm vorging, zu klein, um zu begreifen, dass ihm seine Eltern nur helfen wollten und mit den Folterern nicht gemeinsame Sache machten. Er bekam Thermometer in den After gesteckt, Zungenspachtel in den Hals, und Krankenpfleger mit groben Händen legten ihn in kalte Aufnahmegeräte, auf der Suche nach verräterischen Schatten.
Am Ende fand sich keine Diagnose für die zu beobachtenden Symptome, doch eines Tages war es überstanden. Das Fieber ließ nach. Wir kehrten zum normalen Alltag zurück. Daniels Kinderarzt schrieb das Geschehene den großen Geheimnissen des Lebens zu, und Ellen und ich waren einfach nur dankbar, dass es vorbei war. Daniel selbst schien das Erlebte nichts ausgemacht zu haben, er rannte herum, spielte und lachte wie immer. Aber jetzt, nach so langer Zeit, begann der Diagnostiker in mir zu überlegen: Hatte diese unerklärte Krankheit meinen Sohn womöglich auf eine tiefe, grundlegende Weise verändert? Hatte sie etwas in seinem Gehirn verändert, an seinen Chromosomen, seiner Körperchemie?
Denn obwohl ich nach wie vor überzeugt war, dass mein Sohn keinen Mord begangen hatte, konnte ich doch nicht völlig leugnen, dass er nicht unbedingt in jedermanns Sinn normal war. Mit seinen zwanzig Jahren war er ein rastloser, wankelmütiger Geist und darüber hinaus verschlossen wie ein Einsiedler. Er war ein Nomade, ein Träumer, der sich von der Gesellschaft und allen Regeln des gemeinschaftlichen Lebens freigemacht hatte.
Falls ich ihn je wirklich gekannt hatte, seine Hoffnungen und Sehnsüchte, seine Gedanken und Gefühle, so gehörte diese Zeit der Vergangenheit an. Sein Verhalten war für mich das eines Fremden. Es war das Symptom eines größeren Leidens – des Leidens, Daniel zu sein –, und ich dachte, wenn ich all diese Symptome entschlüsseln könnte, wenn ich Daniels Entscheidungen analysieren könnte, alles, was er in der Vergangenheit getan und gesagt hatte, wenn ich dem darunter liegenden Muster auf die Spur käme – dass ich meinen Sohn dann verstehen würde.
Als Wissenschaftler wusste ich, dass das, was wir unsere «Persönlichkeit» nennen, eine Kombination aus physischen und psychischen Faktoren ist. Unsere Hormone steuern uns. Unsere Gene steuern uns. Wir sind ein Produkt unserer chemischen Zusammensetzung: zu wenig Dopamin, und du wirst depressiv, zu viel, und es besteht die Gefahr der Schizophrenie. Und deswegen musste ich, um Daniels Entscheidungen zu verstehen, von der Annahme ausgehen, dass er einige von ihnen womöglich nicht selbst getroffen hatte, sondern ebenso sehr ein Opfer seiner Biologie sein konnte, wie er ein nach freiem Willen handelnder Mensch war.
Die aktuelle Wissenschaft muss die Feinheiten der Entwicklung unseres Gehirns erst noch kartografieren. Als ich jetzt an diese Krankheit in seine Kleinkindzeit zurückdachte, fragte ich mich: Was, wenn das Fieber einen Schalter in meinem Sohn umgelegt hatte, der sonst nicht umgelegt worden wäre? Was, wenn jene nicht diagnostizierte Krankheit die ganze Zeit in ihm geschlummert hatte, um ihm viele Jahre später unbemerkt Schaden zuzufügen? Parasiten können sich im Darmgewebe verstecken, Jahre später wieder auftauchen und wahre Verwüstungen anrichten. Auch Malaria kehrt, lange nachdem sich ihr Opfer für geheilt hält, mitunter zurück.
Was, wenn die Persönlichkeit meines Sohnes, sein Bedürfnis nach Abstand und Rückzug, nicht das Produkt seiner freien
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