Der Vater des Attentäters (German Edition)
herum und tranken Take-away-Kaffee aus Pappbechern. Moderatoren in sündteuren blauen Anzügen saßen auf Klappstühlen, lasen die Zeitung und warteten auf etwas Berichtenswertes. Während ich mich weiter dem Capitol näherte, das aus nichts als Stufen und Säulen, kantigen Quadraten und Dreiecken zu bestehen schien, nahm ich aus dem Augenwinkel das Washington Monument wahr, einen harten Splitter im wallenden Blau des Himmels, und hörte im gleichen Moment das erste Klicken der Fotoapparate, das den unvermeidlichen Ansturm von Touristen signalisierte, von älteren Paaren in grellfarbigen Trainingsanzügen, japanischen Geschäftsleuten mit Hightech-Ausstattung, dicken amerikanischen Familien und kehlig sprechenden Deutschen, die sich hinter roten Kordeln zu vermutlich drögen Führungen sammelten.
Ich sah die Stufen des Capitols hinauf und bekam eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen musste, zu herrschen und zu regieren. Ich spürte eine Verbindung mit diesem Ort, die weit über alles Geografische hinausging. Dieses Gebäude hatte sich durch zahllose Bilder, Filme und Fernsehnachrichten tief in mein Bewusstsein gegraben. Selbst hier zu sein und es so mächtig und groß zu erleben, erfüllte mich mit einer instinktiven Ehrfurcht.
Ich spürte es in meinem ganzen Körper.
Hinter mir hörte ich eine Frau sagen: «Ich bin durchaus fähig, zwischen Beruf und privat zu trennen …» Ein Mann in einer farbverschmierten Jeansweste rannte Richtung Parkplatz und wurde deshalb sogleich kritisch von der Polizei beäugt. Hundert digitale Kameras klickten und blitzten, und die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Die Aura dieses Orts ging weit über die Beschreibungen, Fotos und Fernsehbilder hinaus. Sie ließ mich auch die ganze Widerlichkeit des Verbrechens erkennen, das meinem Sohn vorgeworfen wurde. Wie dieses Gebäude war Jay Seagram als Senator und Präsidentschaftskandidat ein Symbol gewesen, übergroß wie die Mauern, die mich umgaben. Ein Angriff auf den Präsidentschaftskandidaten war ein Angriff auf die Demokratie selbst. Bei einer Wahl geht es immer auch um Hoffnung, hatte der Agent des Secret Service zu mir gesagt, und mein Sohn wurde beschuldigt, die Hoffnung getötet zu haben. Die Hoffnung dieses Landes, die Hoffnung der Welt.
Ich zeigte einem der Wachmänner meine Papiere. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, wer ich war. Aber er sagte nichts, sondern stellte mir einen Besucherausweis aus und deutete die Treppe hinauf.
Drinnen hielt ich mich möglichst im Hintergrund auf. Männer in Anzügen standen in Gruppen zusammen, überall war uniformierte Polizei.
Der Saal für die Anhörung war riesig. Auf dem Podium vorne hatten erst wenige Kongressabgeordnete ihre Sitze eingenommen. Die übrigen liefen noch umher und besprachen sich mit ihren Assistenten. Ich suchte mir einen Platz in einer der hinteren Reihen.
In diesem Jahr saß Senator Mark Foster dem Ausschuss vor. Um fünf nach neun rief er die Versammlung zur Ordnung und gab eine kurze Einführung, die vor Patriotismus und Entrüstung nur so strotzte.
Es handele sich um Anhörung, stellte Foster klar, keinen Prozess. Daniel Allen werde sich später vor Gericht verantworten müssen. Hier und heute gehe es allein darum, über Versäumnisse im politischen Personenschutz zu sprechen. Nach Loughners Attentat in Tucson, sagte er, habe sein Ausschuss strengere Sicherheitsstandards verlangt. Unsere gewählten Vertreter seien Freiwild geworden, offene Ziele für jeden durchgedrehten Amokläufer. Seagrams Ermordung habe der Furcht neue Nahrung gegeben, dass öffentliche Ämter mit einem hohen Risiko verbunden seien.
«Um es klar beim Namen zu nennen», sagte Foster. «Wir wollen wissen, wer da versagt hat und wie wir dafür sorgen können, dass sich eine solche Tragödie nie wiederholt.»
Michael Miles, der Chef des Secret Service, nahm seinen Platz vor dem Ausschuss ein. Er hatte eine audiovisuelle Präsentation vorbereitet, in der er das Publikum durch eine virtuelle Version von Royce Hall führte. Er präsentierte den Aufenthaltsraum, in dem sich Seagram vor seinem Auftritt ausgeruht hatte. Dort hatte er auch via Webcam mit seinen Kindern gesprochen. Miles projizierte einen Zeitplan auf die Leinwand.
Seit der Ermordung Robert Kennedys war der Secret Service für die Sicherheit der Präsidentschaftskandidaten verantwortlich. Jedem Kandidaten wurde ein eigenes Team zugeordnet. Dazu gehörte eine Art Vorhut, die dem Kandidaten vorausreiste und die
Weitere Kostenlose Bücher