Der Vater des Attentäters (German Edition)

Regenbogen über die Häuser der Reichen.
    «Ich lese all diese Täterbiographien», sagte ich. «Von Sirhan Sirhan, Lee Harvey Oswald …»
    «Sie versuchen Ihren Sohn darin wiederzufinden. John Hinckley sieht sich siebenundzwanzigmal denselben Film an und stellt einer minderjährigen Schauspielerin nach. Und Sie denken: Könnte mein Sohn das tun? Lee Harvey Oswald setzt sich nach Russland ab, er ist Amerikas berühmtester Kommunist. Er steht an einer Straßenecke in New Orleans und verteilt Flugblätter, auf denen ‹Fair Play for Cuba› steht. Sie lesen das und versuchen sich Danny vorzustellen, wie er in Louisiana in seiner Zelle schwitzt.»
    Fallstudien. War es wirklich das, worum es mir ging? Eine Frau wird wegen Kurzatmigkeit vorstellig. Ihr Puls ist schwach. Sie hat Schwierigkeiten, den rechten Arm zu heben. Ich untersuche sie und betrachte ihre Symptome im Kontext aller anderen Fälle, mit denen ich bisher zu tun hatte, aller anderen Patienten, die mit diesen Symptomen oder auch nur einem von ihnen zu mir gekommen sind. Fallstudien. Jede frühere Diagnose kann zur Antwort auf die Probleme eines Patienten führen.
    «In Dallas gab es drei Schützen», sagte ich.
    «Vielleicht. Oder vielleicht reden wir uns das auch nur ein, weil Oswald zu klein ist. Wir fragen uns, wie hat dieser Schwächling, dieser Waschlappen, Amerikas ersten Starpräsidenten töten können? Oder sehen Sie sich Reagan an. Er war ein Cowboy, ein John Wayne mit Atombomben, und dann kommt dieser fette Niemand und schießt auf ihn, als wäre er ein Nichts.»
    «Sind diese Täter alle krank? Ich versuche es zu begreifen.»
    Murray hielt an einer roten Ampel. Ein rosa Ferrari hielt neben uns, am Steuer saß eine Blondine, die sichtlich keinen BH trug. «Nach dem Attentat auf Gabrielle Giffords», sagte er, «habe ich in einem Artikel gelesen, dass laut mehreren Studien fast alle diese Kerle geistig verwirrt sind und keinen nachvollziehbaren politischen Plan haben. Politik ist für sie letztlich Nebensache. Nach einem neuen Weißbuch des Secret Service gibt es vier Grundtypen von Attentätern: Typ eins glaubt, sich für ein politisches Ideal aufzuopfern. Typ zwei ist ein Mensch mit einem enorm aggressiven, egozentrischen Bedürfnis nach Zustimmung, Anerkennung und Ruhm. Zu Typ drei gehören Psychopathen oder Soziopathen, die ihre Lebensumstände für so unerträglich bedeutungslos und sinnentleert halten, dass sie glauben, die Zerstörung der Gesellschaft und ihrer selbst sei das einzig Richtige. Typ vier ist durch schwere emotionale und geistige Störungen gekennzeichnet, die sich in Halluzinationen und Verfolgungswahn und/oder Größenwahn ausdrücken.»
    Er drehte sich mir zu und sah mich an. «Sehen Sie Ihren Sohn da irgendwo?»
    Ich schüttelte den Kopf. Danny war kein Psychopath, er war kein politischer Radikaler, und er war auch nicht übermäßig aufmerksamkeitsbedürftig oder gar schizophren. Wenn die Symptome nicht zur Diagnose passen, muss die Diagnose falsch sein.
    «Er war es nicht, Murray», sagte ich. «Und nachdem ich Peña erlebt habe, bin ich umso mehr davon überzeugt.»
    «Es geht hier leider nicht um das, was wir glauben», sagte Murray, «sondern um das, was wir über jeden vernünftigen Zweifel hinaus beweisen können.»
    Wir erreichten den Campus, als sich gerade die Veranstaltungsräume leerten. Die Rasenflächen waren voller Studenten, junger Männer in Uni-T-Shirts und junger Frauen in Jeansröcken und Uggs.
    «Ich kann nicht anders», sagte Murray. «Wenn ich an Orten wie diesem herumlaufe, muss ich mir die gewaltigen Fickereien vorstellen. Studentinnen mit unglaublichen Körpern. Kleine Titten, große Titten. Joggerinnenbeine. Die sind es noch nicht leid, die mögen den Geschmack vom Schwänzen noch, und wie es sich anfühlt, wenn sie sich an ihren Schenkeln reiben.»
    «Ich würde sagen, Sie brauchen Hilfe», sagte ich.
    Vor dem Eingang von Royce Hall bildeten Unmengen von Blumen, Abschiedskarten und Ehrenbezeugungen eine Art provisorisches Denkmal. Die Universität überlegte derzeit, ob sie das Gebäude nach Seagram umbenennen sollte. Zumindest würde es eine Gedenktafel geben. Wir betraten das Gebäude durch den Haupteingang. Es war ein hellroter Ziegelbau mit einem doppelstöckigen Portikus und Säulengängen. Zwei Türme erhoben sich links und rechts über den Vorbau.
    Wir standen in der großen Eingangshalle. Von den Videoaufnahmen wusste ich, dass mein Sohn durch die mittlere Tür hereingekommen war. Die