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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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Gründerväter die Hoffnung direkt in der Verfassung verankert haben. Das Streben nach Glück .
    «Das ist es, was unser Land zu einem großen Land macht», sagt er. «Wir alle, jeder Einzelne von uns ist aufgefordert, im Leben nach dem zu suchen, was uns glücklich macht. Aber dieses Glück hat einen Preis, schließlich ist das Glück unseres Nächsten ebenso wichtig wie unser eigenes. Wie kann ich glücklich sein, wenn meine Mitmenschen leiden?»
    Vom Balkon wirft jemand einen großen, leichten Wasserball ins Publikum. Die Leute springen hoch, um ihn zu fangen und weiterzuschubsen, von Hand zu Hand, als wären sie bei einem Baseballspiel oder tatsächlich einem Rockkonzert.
    «Ohne Hoffnung», sagt er, «gibt es kein Wachstum. Ohne Wachstum gibt es kein Leben.»
    Er ist auf der Zielgeraden und bewegt sich auf den Endspurt zu. Er wippt auf den Zehenspitzen und stößt mit der Hand in die Luft. Wenn er erst Präsident ist, wird er alles ändern. Er wird die Lobbyisten aus der Stadt treiben. Er wird mit Worten kämpfen, nicht mit Gewalt. Er wird auf seine Berater hören, auf die Menschen selbst.
    «Wir sind nicht hier auf dieser Erde», sagt er, «um einander umzubringen und unsere Mitmenschen in Armut versinken zu lassen. Wir sind nicht hier auf dieser Erde, um reich zu werden oder Mauern zu errichten. Wir sind hier, um uns umeinander zu kümmern, um Familien zu gründen und unsere Kinder großzuziehen.»
    Er tritt hinter dem Rednerpult hervor und kommt an den Bühnenrand. Er will den Menschen näher sein, will fühlen, wie sie mit ihren Händen die Luft aufwühlen.
    «Wir sind hier auf …», sagt er, und plötzlich verspürt er etwas wie einen Tritt gegen die Brust. Erst dann hört er den Knall, ein metallisches Krachen, das durch den Saal hallt. Er tut einen Schritt zurück, versucht das Gleichgewicht zu bewahren. Der zweite Schuss trifft ihn in den Hals. Er lässt das Mikrofon fallen, und die Welt um ihn herum scheint zu kippen. Er schlägt hart auf dem Boden auf, sein Handgelenk bricht. Blutend liegt er da. Vor sechs Sekunden noch hat er geredet, vor sechs Sekunden noch hat er sich auf das Ende seiner Rede zubewegt, und jetzt verliert er sein Leben. Er sieht, wie es in einer purpurnen Fontäne aus ihm herausspritzt. Er legt eine Hand auf den Hals und versucht das Blut aufzuhalten, aber sein Arm hat kaum Kraft.
    Seine Frau rennt los, sie will zu ihm. Larry und Frank stehen mit gezogenen Pistolen über ihm. Frank schreit etwas in das Mikro an seinem Handgelenk und lässt den Blick über das Publikum fahren, schaut hastig nach links und rechts.
    Nein, bitte nicht so enden, denkt er, als Rachel neben ihm auf die Knie fällt. Er denkt an seine Kinder daheim mit ihrer Großmutter. Er betet, dass sie es nicht mit ansehen. Er denkt an seinen Sohn Nathan, an jene letzten Sekunden im Kampf gegen das eisige Wasser. Daddy ist ja da , hat er zu ihm gesagt, während er ihn aus dem Eis zog. Nathans kleines Gesicht war blau angelaufen, schlaff hing er in seinen Armen. Daddy ist ja da .
    Der Tod wartet auf uns alle. Jetzt war Jay Seagram an der Reihe.
    «Paul», sagte Murray.
    Ich sah mich um. Ich stand auf der leeren Bühne, schwere Scheinwerfer hingen über mir, die Vorhänge wie Flügel an den Seiten. Außer Murray und mir war niemand im Saal. Ich dachte an John Wilkes Booth, und wie er aus Lincolns Loge im Ford Theatre auf die Bühne gesprungen war und sich das Bein gebrochen hatte. Ich sah ihn vor mir, wie er vor dem gelähmten Publikum stand, ein Schauspieler, der den Moment auskostete. Obwohl sein Bein gebrochen war, stand er aufrecht und rief: «Sic semper tyrannis!»
    So geschehe es mit jedem Tyrannen.
    Die Politik war schon immer eine Art Theater gewesen. Es war wie mit der Medizin. Operiert wurde früher in aller Öffentlichkeit, ein Mann mit einem Messer schnitt einen menschlichen Körper vor Dutzenden Zuschauern auf. Deshalb hieß ein Operationssaal zunächst auch «operation theatre» .
    «Paul», sagte Murray. Er stand im Parkett und sah zu mir herauf, wobei er unbewusst genau den Platz meines Sohnes eingenommen hatte. Ich stand, wo Seagram gestanden hatte. Es schienen die magischen Anziehungspunkte dieses Saales zu sein.
    Ich fühlte mich schwach, hielt es nicht aus. Dieser Ort war Teil der Geschichte geworden, er repräsentierte die besten und die schlimmsten Züge der menschlichen Kreatur. Hoffnung und Mord. Die Auslöschung der Hoffnung. Wenn mein Sohn der Täter gewesen war, verstand ich die Welt nicht mehr,

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