Der Vater des Attentäters (German Edition)
Kameras hatten ihn um 14.51 Uhr erfasst, als er durch die Metalldetektorschleuse ging. Ich versuchte mir das Foyer voller Studenten vorzustellen, die Energie, die in der Luft lag, das Summen und Pulsieren der Menge. Vor uns lag die Tür zum großen Theatersaal. Durch meinen Ablaufplan wusste ich, dass sie sich erst nach drei Uhr geöffnet hatte. Links und rechts führten Treppen in den oberen Stock. Über die rechte musste man in den Korridor gelangen, in dem der Secret Service den Feuerlöscher mit den Klebebandrückständen gefunden haben wollte. Die Anklage würde behaupten, dass Danny an jenem Tag da hinaufgegangen war. Dass er gewartet hatte, bis der Korridor leer gewesen war, und dann die Pistole aus ihrem Versteck geholt hatte.
Ich versuchte mir das vorzustellen, meinen Sohn, wie er das Klebeband abzog und mit der Hand über den klebrigen Stahl fuhr. Hatte er das Magazin herausgeholt, um zu sehen, ob die Pistole noch geladen war? Sich die Waffe hinter den Hosenbund gesteckt wie ein einfacher Straßenräuber? Nein, ich konnte das nicht glauben. Aber vielleicht war das mein Fehler. Als Arzt konnte ich es mir nicht erlauben, eine mögliche Diagnose auszuschließen. Ich konnte es mir nicht erlauben, mein Urteil von meinen Gefühlen beeinflussen zu lassen.
«Gehen wir hinein», sagte ich.
Das Licht drinnen war gedämpft. Wir gingen durch den hinteren Teil des Zuschauerraums und folgten dem rotgelben Teppich in Richtung Bühne. Ich stellte mir den Saal voll vor, das unablässige Murmeln der Stimmen. Seagrams Wahlkampfmanager hatte verlangt, dass die Studenten bis dicht an die Bühne treten durften. Sonst hätte es vielleicht so gewirkt, als wäre das Publikum nicht interessiert. Seagram brauchte eine Rockkonzert-Atmosphäre, mit Hunderten von Fans, die ihrem Star nicht nahe genug kommen konnten und ihn berühren wollten.
Die Bühne war etwa anderthalb Meter hoch. Bevor er seine Rede begann, war Seagram vorgetreten und hatte die Hände geschüttelt, die sich zu ihm hochreckten. Aus dem Lautsprechern dröhnte der Smashing-Pumpkins-Song Today . «Today is the greatest / Day I’ve ever known. / Can’t live for tomorrow. Tomorrow’s much too long.»
Die Bilder, die ich gesehen hatte, tauchten wieder vor mir auf. Wie Seagram die erhobenen Hände berührt. Er steht auf der Bühne und sieht in die lächelnden Gesichter, genießt den Applaus. Er macht jetzt schon seit mehr als einem Jahr Wahlkampf, hat die wichtigsten Vorwahlen gewonnen, und nun steht er hier vor der Menschenmenge. Er hat noch fünf Monate vor sich, der Parteitag der Demokraten steht noch aus und natürlich die Wahl selbst, die Auseinandersetzung, die Fernsehduelle, der Schlagabtausch mit seinem republikanischen Widersacher. Während der letzten zwei Tage hat er vielleicht fünf Stunden geschlafen. Es gibt so viel zu tun, so viele Telefonate zu führen, Geld zu beschaffen.
Er will seinen Kindern nahebleiben, will nicht, dass seine Frau vergisst, wie er aussieht. Er steht auf der Bühne, die Menge gibt ihm neue Energie, aber hat er diese Rede nicht schon hundertmal gehalten? Er versucht die Worte frisch klingen zu lassen, versucht ihnen einen besonderen Klang zu geben, schließlich sind diese jungen Leute die Zukunft. Das klingt abgedroschen, aber es stimmt. Vor ihm stehen die Wähler und Steuerzahler von morgen. Wer die jungen Menschen hinter sich bekommt, beherrscht die Welt. Er überlegt, ob er das sagen soll, aber es würde zynisch klingen. «Beherrscht» ist das falsche Wort. «Regiert» wäre besser.
Seagram wirft einen verstohlenen Blick nach rechts zu Rachel auf dem Balkon. Sie lächelt ihm zu und hebt den Daumen. Sie war die ganze Zeit über so stark. First Lady . Wenn er die Worte zu ihr sagt, lacht sie. Sie kann nicht glauben, dass sie das sein könnte. Aber einmal hat sie gefragt: «Warum heißt es nicht ‹First Woman›? ‹Lady› klingt so nach einem Taxifahrer, der dich übers Ohr hauen will.»
Er wendet sich wieder dem Publikum zu. Die Gesichter vor ihm sind weiß, schwarz, indisch- und chinesischstämmig. Das ist das Amerika der Zukunft, ein Flickenteppich der Nationen. Larry und Frank, seine Leibwächter vom Secret Service, stehen hinter ihm, lassen die Blicke über die Menge schweifen und halten nach Verdächtigem Ausschau. Seagram genießt die Zuneigung der Menschen. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass ihm hier jemand etwas antun will. Er beginnt seine Rede damit, über Hoffnung zu sprechen. Darüber, dass die
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