Der Vater des Attentäters (German Edition)
zu ihm hinüber. Die riesige Uhr mit den goldenen Zeigern und den römischen Messingziffern stand auf Viertel nach drei.
Er legte die Flugblätter auf einem Mülleimer ab und ging los in Richtung des Turmes. Er passierte das Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Studenten, stieg die Stufen in Richtung Uni-Hauptgebäude hinauf, kam an der Benedict Hall und Mezes Hall vorbei, an den Statuen von George Washington und Jefferson Davis, stand endlich auf dem weiten Platz und sah zum Turm mit der Uhr hinauf, der eine seltsame hypnotische Macht auf ihn ausübte. Aus irgendeinem Grund musste er an die Trichterwolke denken, die ihn in Iowa beinahe umgebracht hätte. Auch dieser Turm kam ihm auf eine Weise wie der Arm Gottes vor.
Während er so dastand, trat eine Studentin neben ihn, die er zwei Tage vorher in das Wählerverzeichnis eingetragen hatte. Sie hatten über die Uni und das Wetter geredet, und sie hatte deutliches Interesse an ihm gezeigt, das er allerdings nicht erwiderte. Susan Soundso. Jetzt stand sie plötzlich neben ihm und sagte: «Wenn man sich vorstellt, dass er all die Menschen hier umgebracht hat … Ich find’s immer noch total gruselig.»
Er sah sie an. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete.
«Dieser Marinesoldat», sagte sie. «Charles irgendwas. Whitman. Das war in den Siebzigern oder so. Er ist mit einem Gewehr da rauf und hat einfach drauflosgeschossen.»
Sie fragte ihn, ob er Zeit für eine Tasse Kaffee habe. Danny murmelte eine Ausrede. Er eilte in die Bibliothek, der Turm ragte über seinem Kopf drohend in den Himmel.
Natalie arbeitete an diesem Tag nicht. Tags zuvor hatte er gehört, dass sie sich freinehmen wollte. Es war auch besser so, spätestens in einer Stunde musste er zurück zur Arbeit und hatte nicht die Zeit, sie anzuschmachten. Er ging direkt in den Computerraum und gab «Austin» ein, und « UT -Uhrenturm Charles Whitman».
Was er fand, war dies: Am 1. August 1966, kurz nach Mitternacht, hatte Charles Whitman, fünfundzwanzig, seine Mutter gewürgt und erstochen. Anschließend hatte er seine schlafende Frau Kathy getötet, indem er fünfmal mit einem Jagdmesser auf sie einstach. Am Morgen dann fuhr er zur University of Texas, stieg den Uhrenturm hinauf und schoss von dort oben mit einem Scharfschützengewehr auf die Leute unter sich. Sechsundvierzig Menschen traf er – sechzehn davon starben, dreißig wurden verletzt –, bevor er selbst von der Polizei erschossen wurde.
Danny fand auch alte Fernsehaufnahmen aus den Nachrichtensendungen von damals, sah Fotos von den Opfern auf Tragbahren und von Polizisten, die hinter ihren Streifenwagen kauerten.
In den Monaten vor dem Massaker, las Danny, habe Whitman verschiedenen Leuten gegenüber bemerkt, dass ein Heckenschütze von dem Turm aus sehr viel Schaden anrichten könne. Kulturtheoretiker sprachen vom ersten modernen Verbrechen der Geschichte und sagten, Whitman habe mit seinen wahllosen Amokschüssen das zwanzigste Jahrhundert geboren.
Charles Whitman kam in Lake Worth, Florida, zur Welt. Die Familie war wohlhabend, er war ein begabter Schüler und spielte hervorragend Klavier. Bei den Pfadfindern erreichte er den höchsten Rang des Eagle Scout, aber er hatte einen gewalttätigen Vater, der später zugeben sollte: «Ich habe meine Frau oft geschlagen, so sehr ich sie auch geliebt habe. Ich war immer schon fürchterlich jähzornig, und meine Frau war fürchterlich stur. Und so habe ich sie immer wieder geschlagen.»
Er schlug auch seine Söhne, mit Gürteln, Paddeln oder, wenn nichts anderes zur Hand war, auch mit den bloßen Fäusten. Um sie zu disziplinieren. Im Juni 1959, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag, kam Charles eines Abends betrunken nach Hause, sein Vater schlug heftig auf ihn ein und warf ihn in den Swimmingpool. Charles wäre beinahe ertrunken. Ein paar Tage später schrieb er sich bei den Marines ein. Er wollte unbedingt von zu Hause weg.
Bei den Marines erlangte er ein Scharfschützenabzeichen, mit 215 von 250 möglichen Ringen. Er tat sich im Schnellfeuer-Schießen auf große Distanzen hervor und schien besonders gut darin, bewegliche Ziele zu treffen.
Für seine Vorgesetzten hatte Whitman das Zeug zum Offizier, und so schickten sie ihn nach Austin an die Universität. Dort heiratete er seine Freundin Kathy Leissner. Gleichzeitig begann er um Geld zu spielen und wurde beim Wildern erwischt. Seine Noten waren durchschnittlich. Die Marines erkannten ihren Fehler und riefen Whitman zurück in
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