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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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Sackkarre sah er aus wie ein Hausmeister oder Wartungstechniker. Er betrat den Aufzug und bat eine Bedienstete um Hilfe, die ihm zeigte, wie der Aufzug bedient wurde. «Danke, Ma’am», sagte Whitman. «Sie wissen gar nicht, wie glücklich mich das macht.»
    Im achtundzwanzigsten Stock arbeitete eine Empfangssekretärin. Whitman schlug ihr mit seinem Gewehrkolben den Schädel ein und zerrte sie quer durch den Raum hinter ein Sofa. Nur Augenblicke später kamen ein Mann und eine Frau von der Aussichtsplattform in den Empfangsbereich und sahen Whitman über das Sofa gebeugt, mit zwei Waffen in der Hand. Auf dem Boden war Blut zu sehen. Ein unangenehmes Schweigen erfüllte den Raum, dann öffneten sich die Aufzugstüren, und das Paar ging hinein. Whitman sah die beiden verschwinden und zog darauf den Schreibtisch vor die Tür zum Treppenhaus.
    Er wollte gerade nach seiner Truhe greifen, als er hörte, wie der Schreibtisch ein Stück verrückt wurde. Jemand im Treppenhaus versuchte die Tür aufzudrücken. Whitman packte die Schrotflinte und ging hinüber. Touristen starrten ihn an, vier Erwachsene und zwei Kinder. Whitman hob die abgesägte Flinte und begann zu schießen. Jeder Schuss fühlte sich an wie eine zerspringende Kette.
    Er ging aufs Dach und versperrte die Tür mit einem Keil. Die Uhr zeigte 11.48 Uhr an.
    Es war ein heißer, schwüler Tag, und die Mittagssonne legte sich auf ihn wie eine Decke, die ihn ersticken wollte. Er brauchte fast eine Minute, um zur Ruhe kommen. Er nahm das Remington-Repetiergewehr, legte es auf die südliche, steinerne Balustrade und sah durchs Zielfernrohr. Der Platz unten war ein Meer sich dahinbewegender winziger Menschen. So muss sich Gott fühlen, dachte er, während er einen nach dem anderen ins Visier nahm.
    Der erste Schuss traf eine schwangere Frau und tötete ihr ungeborenes Baby. Der nächste tötete den Mann neben ihr. Ein Gastprofessor für Physik bekam eine Kugel in den unteren Rücken. Whitman sah jeden Schuss, schon bevor er ihn abfeuerte. Er sah den Einschlag der Kugel voraus und wandte sich bereits dem nächsten Opfer zu, bevor sie ihr Ziel erreichte.
    Der erste Streifenwagen kam kurz nach zwölf. Whitman hatte sich bereits der Guadalupe Street zugewandt. Er schoss einen Zeitungsjungen von seinem Rad. Die Art, wie der Junge zu Boden ging, brachte ihn zum Lachen. Er schoss auf eine Siebzehnjährige, aber plötzlich kam Wind auf, und er wusste, er hatte sie nur verwundet.
    Polizisten gingen in Deckung und versuchten auszumachen, woher die Schüsse genau kamen. Die Getroffenen lagen, wo sie zusammengebrochen waren, und ihre Umrisse flimmerten in der vierzig Grad heißen Mittagsluft. Whitman erschoss einen Jungen durch eine zwanzig Zentimeter große Lücke zwischen zwei Steinsäulen. Gibt es denn niemanden, den ich nicht treffen kann?, dachte er. Er war ein Profikämpfer auf der Höhe seines Erfolgs, der Schwergewichtsweltmeister. Jeder Schuss machte ihn größer und stärker. Jedes Leben, das er auslöschte, fügte seinem eigenen hundert Jahre hinzu. Er ging auf die andere Seite und schoss auf einen Doktoranden, der gerade aus einem Zeitungskiosk kam. Whitman sah zwei junge Burschen hinter eine Mauer springen. Als einer von ihnen den Kopf hob, um zu sehen, was da vorging, schoss Whitman ihm in den Mund.
    Er hörte Gewehrschüsse. Die Polizei begann zurückzuschießen. Dazu kamen Austiner Bürger, die ihre Gewehre von zu Hause geholt hatten und ebenfalls versuchten, ihn vom Turm zu holen. Die Kugeln schlugen rund um ihn ein. Man befand sich schließlich in Texas, dem Land der wehrhaften Cowboys. Whitman lauschte den von den Steinwänden abprallenden Projektilen. Es war nur richtig so. Wie sollte es Spaß machen, wenn sie sich nicht wehrten? Er begann durch die Wasserspeier hindurchzuschießen, die es zu allen Seiten hin gab, und machte es denen da unten damit so gut wie unmöglich, ihn zu treffen. Er war jetzt schon eine halbe Stunde hier oben. In dreißig Minuten hatte er eine ganze Stadt in die Knie gezwungen. Die heftige Sonne gab ihm langsam das Gefühl, ein Marshmallow über einem Lagerfeuer zu sein.
    Vierhundertfünfzig Meter südlich traf einen Mann neben einem offenen Lieferwagen eine Kugel in den Bauch. Whitman war eine Killermaschine. Er war der Zorn Gottes, so unerbittlich und bedrohlich wie der Tod selbst. Er konnte den Mann im Mond erschießen, wenn er wollte. Er konnte Menschen in der Zukunft erschießen. Er konnte die Vergangenheit exekutieren.
    Whitman

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