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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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trat, dass der Putz bröckelte.
    Und es war klar: Sie hatten nicht nur gute Eltern, diese Kinder, sie hatten auch einander. Jemanden, mit dem sie spielen und auf den sie sich verlassen konnten. Sie waren keine Einzelkinder wie Danny, der sich mit sechs Jahren aus dem Haus geschlichen und im Auto geschlafen hatte, um zu sehen, ob es seinen Eltern auffallen würde. Es fiel ihnen nicht auf. Er betrachtete die Seagrams in ihrem Urlaub, eine glückliche, lächelnde Familie vor einem See. Auf einem Bild befanden sie sich auf einer Segelyacht, irgendwo in der Karibik. Auf einem anderen standen sie neben einem riesigen Weihnachtsbaum, dessen Lichter funkelten wie glückliche Augen.
    Er mailte sich die Bilder und Artikel auf sein eigenes Account. Er wollte sie sich später in seinem Zimmer noch einmal genauer ansehen und sich ein paar Dinge dazu notieren.
    Das Mädchen fiel ihm zum ersten Mal vor dem Regal mit der Literatur zur russischen Geschichte auf. Sie ordnete gerade Bücher über den Bürgerkrieg zurück ins Regal. Sie hatte hellbraunes Haar und eine spitze Nase. Ihre Ohren standen leicht ab, aber nicht zu viel. Etwas an ihrem Gesicht machte ihm die Brust eng, etwas an ihrem leichten Sommerpullover und der Rundung der Hinterbacken, die gegen den Stoff ihrer Hose drückten. Er blieb vor den Bänden zum aktuellen Zeitgeschehen stehen und beobachtete sie, wie sie zwischen den Regalen hin und her ging. Sie hatte ein offenes, freundliches Lächeln, und sie lachte viel. Alle schienen sie zu kennen, Danny konnte den Blick nicht von ihr lösen. Vermutlich gehörte sie zu jener Sorte Mädchen, die früh aufsteht, um ein paar Bahnen zu schwimmen, und nach ihrem Bibliotheksjob noch Essen auf Rädern verteilt. Zu der Sorte Mädchen, die den Leuten das Essen nicht nur bringt, sondern auch noch bleibt, um sich ihre Geschichten anzuhören und die Fotos der Enkel anzusehen.
    An diesem Abend lag er auf dem Bett und dachte an sie. Er stellte sich vor, mit ihr durch die Karibik zu segeln, und der Gedanke an sie in einem Badeanzug verursachte ihm Gänsehaut. Unten grölten seine Hausmitbewohner vor dem Fernseher herum und aßen eine Pizza, die sie irgendwo in der Küche gefunden hatten. Er konnte hören, wie der Reporter das Baseballspiel kommentierte, die knappen, schnellen Laute mit den flachen Vokalen einer östlichen Industriestadt.
    Im September registrierte er Wähler. Seagrams Wahlkampfkoordinator sagte, er habe noch nie erlebt, dass jemand an einem Tag so viele Unterschriften gesammelt habe. Danny konnte gut mit den Leuten umgehen. Er hatte einen guten Blick für sie. Er sprach Hausfrauen auf Supermarktparkplätzen an. Er wusste, mit wem sich über Sport fachsimpeln ließ, hielt sich an Straßenecken auf und lernte dabei, was in Ecuador und Brasilien Fotze hieß.
    Anschließend ging er in die Bibliothek und las Bücher über Texas. Es war ihm wichtig, alles über den Ort zu wissen, an dem er lebte. Das Mädchen arbeitete nicht jeden Tag dort. Montags bis mittwochs war sie nachmittags da, donnerstags und freitags am Vormittag. Sie hieß Natalie. Danny erkannte ihre Gestalt immer schon von fern. Ihr Kleiderstil wurde ihm vertraut, die Jeansjacken und die langen Röcke. Rechts trug sie ein Fußkettchen. Vielleicht hatte es ihr ein Freund geschenkt. Ob sie es wohl auch beim Schlafen trug? Beim Duschen?
    Er überlegte sich oft, ob er sie ansprechen sollte, tat es aber nicht. Sie verkörperte für ihn so eindeutig das perfekte Mädchen, dass er Angst hatte, sie könnte etwas sagen oder tun, das alles zerstörte, und dann wäre sie nur noch eines von all den hübschen Mädels mit tollem Po, mit denen er schon im Bett gewesen war.
    Er fühlte sich wohl in Austin. Er fuhr gerne mit dem Rad am Wasser entlang, mochte das Wetter und die Leute und sogar die Verbindungsstudenten mit ihren Bierbäuchen und den freundschaftlichen Kopfstößen. Dazu gab es ein Mädchen, an das er ständig denken musste, und er hatte einen Job, der ihm sinnvoll vorkam. Er hatte ein Ziel. Ein Anliegen.
    Und dann sah er den Turm. Und alles wurde anders.

 
     
    Der Glockenturm der University of Texas war 1937 errichtet worden, knapp über neunzig Meter hoch und stand am westlichen Ende des Campus. Er überragte alles in der näheren Umgebung. Als Danny ihn zum ersten Mal bewusst wahrnahm, stand er gerade an der Ecke der 21 st und Guadalupe Street und verteilte Flugblätter. Seit zwei Wochen arbeitete er bereits in der Gegend, aber erst jetzt sah er wirklich einmal

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