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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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geflohen war.
    In seinem schweren Mantel stand er auf der anderen Straßenseite vom Park Lane Hotel, wo die Zeremonie stattfinden sollte, und spürte, wie der Wind durch seine Strumpfhose drang. Nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte, überquerte er die Straße mit dem schwerfälligen Gang eines Mannes, der nicht an die Schräglage weiblicher Absätze gewöhnt ist. Seine Einladung zeigte er vor, ohne es zu wagen, die Dame am Eingang unter seinen ausladenden schwarzen Wimpern anzuschauen. Schnell huschte er in den Ballsaal. Die Gäste saßen bereits an den Tischen. Er blieb im Hintergrund stehen, wo das Kerzenlicht nicht hinreichte, und lehnte eine Reihe von Aufforderungen vereinzelter Herren, sich zu ihnen zu setzen, höflich ab. Als die Zeremonie begann, widerstand er dem Bedürfnis, in einem Gebet seinen Sieg zu erbitten, und erlaubte es sich stattdessen, den heidnischen Gott des Glücks zu bemühen und sich die Daumen zu drücken. Den Rücken an die Wand gelehnt, um die von seinem Schuhwerk verursachten Schmerzen zu mildern, schaute er zu, wie die Sieger einer nach dem anderen auf die Bühne gerufen wurden. Sein einziger Trost war, dass er das eleganteste Kleid trug.
    Als der Zeremonienmeister die Bühne verließ und die Kellnerinnen mit dem ersten Gang kamen, schlüpfte der Geistliche zur nächsten Tür hinaus und fand sich in der Bar wieder. Er ließ sich in einen Sessel sinken und dachte erst daran, die Beine zu schließen, als der Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen. Über eine Stunde blieb er, wo er war, und spürte unter dem lastenden Gefühl der Niederlage nicht einmal mehr die drückenden Schuhe. Erst als der Kellner an ihn herantrat und sich erkundigte, ob er noch etwas zu trinken wünsche, kam er wieder zu sich. Er stand auf, um nach Hause zu gehen. Als er an der Tür zum Ballsaal vorbeikam, sah er plötzlich, dass der Zeremonienmeister auf die Bühne zurückgekehrt war.
    »Und nun«, sagte der Mann und lehnte sich zum Mikrofon vor, »ist der Moment gekommen, auf den Sie alle gewartet haben. Ich habe das große Vergnügen, den Gesamtsieger des Abends zu verkündigen …«
    Rev. Septimus Drew betrat den Saal, um eine letzte Demütigung über sich ergehen zu lassen. Der Mann mit der Fliege öffnete jetzt einen Umschlag, schaute auf und sprach zwei Worte, die den Kaplan in einen Schockzustand versetzten. So entging ihm auch die nun folgende Hymne auf die einzigartige Prosa der Vivienne Ventress, auf die verlockenden Freiräume für die Fantasie des Lesers, auf den moralistischen Grundton, den man in diesem Genre noch nie vernommen hatte, auf den unerschütterlichen Glauben an die Existenz wahrer Liebe, der ihrem Werk eine vielfach kopierte, aber nie erreichte Originalität verlieh.
    Er sah, wie sein Verleger aufstand, um den Preis stellvertretend für Miss Ventress entgegenzunehmen. In diesem Moment jedoch drängte es ihn geradezu zur Bühne, und er stieg mit gesenktem Kopf die Treppe hoch und nahm den Preis mit einem Klimpern seiner ausladenden tiefschwarzen Wimpern in Empfang. Trotz der Sprechchöre: »Eine Rede! Eine Rede!« verließ er die Bühne, ohne ein Wort zu sagen. Auf dem Weg zur Tür behielt er sein sittsames Schweigen bei und zog dann, seine Schuhe in der Hand, schleunigst von dannen, bevor sein Verleger ihm die haarige Hand schütteln konnte.
    Rev. Septimus Drew schnarchte bereits, den Preis neben sich auf dem Nachttisch, als Balthazar Jones zur Festungsmauer ging, um dem Bartschwein Auslauf zu verschaffen. Irgendwann auf ihrem mondbeschienenen Weg hielt er an und ließ sich zu Boden sinken. Er lehnte sich an das kalte, uralte Gemäuer und war dankbar für die Wärme des Tiers, das den Kopf auf seinen Oberschenkel legte und schubweise seinen Rübenatem in den sternenübersäten Nachthimmel stieß. Die Finger um die Leine geschlungen, dachte er wieder an die Worte des Kaplans im Brick Tower. Schließlich gelangte er zu einer Entscheidung, rüttelte das Schwein sanft wach, stellte sicher, dass niemand sie sehen würde, und kehrte zum Develin Tower zurück, wo das Tier weiterträumen konnte.
    Auf dem Heimweg hörte er den klagenden Schrei des Wanderalbatros durch die finstere Festung dringen. Um ihn zu trösten, schlug er den Weg zum Brick Tower ein und traf auf eine Gruppe von Beefeatern, die aus dem Rack & Ruin herausgeflogen waren, weil sie sich verbündet hatten, um die Drei-Penny-Münze an sich zu bringen. Vor dem White Tower blieben sie stehen. Die Männer gratulierten

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