Der verborgene Charme der Schildkröte
sich etwa der Astronom Karls II. darüber beklagt, dass sie ihm immer vors Teleskop flogen. Der König soll daraufhin befohlen haben, dass man sie vernichten möge. Erst als man ihn warnte, dass der White Tower dann fallen und England von einer großen Katastrophe heimgesucht werden würde, lenkte er ein und ordnete an, dass immer mindestens sechs Raben in der Festung sein müssten.
»Das ist aber alles Unsinn«, rief der Geistliche triumphierend. »Soeben hat ein Forscher das Archiv der letzten tausend Jahre durchforstet und herausgefunden, dass von Raben im Tower erstmals im Jahre 1895 die Rede ist. Die Legende muss also eine viktorianische Erfindung sein.«
Statt begeistert zu sein, wie er es sich erhofft hatte, sah der Beefeater ihn aber nur an und fragte: »Glaubst du, es wird regnen?«
Der Kaplan weigerte sich aufzugeben. Er marschierte in die British Library und bat um die obskursten Titel, die er in dem heiligen Katalog entdecken konnte, sehr zum Unwillen der Bibliothekare, die im Keller ganze Staubvorhänge beiseiteschieben mussten, um die Bücher zu beschaffen. Nach ein paar Monaten stieß er endlich auf eine Geschichte von historischem Zündstoff, in der auch etliche Ärzte vorkamen. Sie zeigte nicht nur, dass dieser Berufsstand aus einem Rudel von Pavianen bestand, wie der Beefeater immer schon behauptet hatte, sondern sie war auch derart komisch, dass dem Kaplan wegen seiner Heiterkeitsausbrüche der Leserausweis entzogen wurde.
Ohne anzudeuten, was für ein Vergnügen auf ihn wartete, lud Rev. Septimus Drew den Beefeater zum Abendessen ein und holte zu diesem Zweck seine beste Flasche Château Musar aus dem Keller. Sobald er die Kressesuppe serviert hatte, begann der Geistliche mit der Geschichte von Mary Toft, einem Dienstmädchen aus dem achtzehnten Jahrhundert, das im Dienste des Prinzen von Wales stand und eines Tages anfing, Kaninchen zu gebären. Der örtliche Chirurg, der herbeigerufen worden war, half bei der Entbindung von neunen dieser Tiere, die alle tot und zerstückelt zur Welt kamen. Einer ganzen Reihe von gelehrten Gentlemen schrieb er von diesem Phänomen, woraufhin Georg I. seinen Anatomen und seinen Sekretär zum Prinzen von Wales schickte, um die Sache zu untersuchen. Beide wurden Zeuge weiterer Totgeburten. Nun wurde die junge Frau nach London gebracht, und die gesamte Ärzteschaft nahm die Sache so ernst, dass überall im Königreich Kaninchenragout und Hasenpfannen von der Speisekarte verschwanden. Letztlich wurde die Frau allerdings als Betrügerin entlarvt, denn nachdem man einen Boten dabei erwischt hatte, wie er ein Kaninchen in ihr Zimmer schmuggeln wollte, bekannte sie, dass sie sich die Kaninchenteile selbst hineingeschoben habe.
Die Geschichte, die sich über drei Gänge hinzog, schloss eine Reihe ehrgeiziger theatralischer Darbietungen ein. Nachdem sie mit dem gebratenen Kapaun fertig waren, schob der Geistliche seinen Stuhl zurück und massierte sich mit beiden Händen den Rücken, als wäre er mit etlichen Kaninchen schwanger. Nachdem er zum vierten Mal die Gläser nachgefüllt hatte, legte er die Hände an die Ohren und streckte beide Zeigerfinger nach oben, bleckte die Schneidezähne und zuckte mit der Nase. Und bevor er den Brotpudding mit Früchten holen ging, hüpfte der Ein-Meter-Neunzig-Mann in einer Technik um den Küchentisch herum, die zweifellos an Kaninchenhopser erinnerte. Die ganze Zeit über hatte der Beefeater den Kaplan nicht aus den Augen gelassen. Als sich Rev. Septimus Drew dann aber mit seinem weißen Taschentuch die Lachtränen aus den Augen wischte und seinen Gast fragte, was er von der Geschichte von Mary Toft halte, blinzelte Balthazar Jones und fragte: »Von wem?«
Zu Hause angekommen, legte der Kaplan die Schaufel in den Schrank unter der Spüle, wusch sich sorgfältig die Hände und nahm seine trostlose Teekanne für eine Person vom Regalbrett. Als er alleine am Tisch saß und seinen Cranberry-Tee trank, dachte er an die göttliche Ruby Dore. Unfähig, die Qualen der Einsamkeit länger zu ertragen, stand er auf, holte den Stapel Rezepte aus der Schublade neben der Spüle und machte sich daran, die Waffe der Verführung auszuwählen.
Nachdem er seine Wahl getroffen hatte, nahm er die Post, die er am Morgen aus dem Postfach geholt hatte, und stieg in sein Arbeitszimmer hoch, um seine nächste Predigt zu entwerfen. Mit dem elfenbeinernen Brieföffner fuhr er hinter die Lasche des ersten Briefumschlags und griff hinein. Nachdem er den Brief
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