Der verborgene Charme der Schildkröte
hinter einer Dose Karottensuppe ein einsames Mandeltörtchen, das Valerie Jennings gehörte. Angelockt von der verführerischen roten Kirsche darauf, sagte sie sich, dass ihre Kollegin es sicher nicht vermissen würde, nahm es mit zu ihrem Schreibtisch und biss hinein. Das würde aber auch schon ihre einzige Erinnerung an die gehaltvolle Mandelfüllung bleiben, denn ihre Finger hatten schon nach dem Tagebuch des Gigolos gegriffen. Sie stieg in die Szene ein, in der ein Konferenztisch durch die hohen Hacken einer Geliebten völlig zerstört wurde, und wurde derart in den Bann des Geschehens gezogen, dass sie den Rest des Mandeltörtchens vollkommen mechanisch vertilgte.
Als sie sich gerade die verräterischen Spuren vom Mund wischte, klingelte das Telefon.
»Haben wir, in der Tat«, antwortete sie und schaute zu der aufblasbaren Puppe mit dem roten Loch an Stelle des Mundes hinüber. »Sie ist blond … Aha … Die sind weiß … Ihre Schuhe sind definitiv weiß … Ich kann sie von hier aus sehen … Dann kann es nicht Ihre sein, meinen Sie? … Wir melden uns bei Ihnen, wenn sie auftaucht … Wir behandeln alles, was bei uns abgeliefert wird, mit der allergrößten Sorgfalt … Das kann ich gut verstehen … Nein, überhaupt nicht … Jeder nach seiner Façon … Genau … Auf Wiederhören.«
Sie lehnte sich zurück. Ihr Blick fiel auf die Urne, und sie wischte mit dem Finger den Staub von der Messingplakette. Dann griff sie nach dem Telefonbuch auf dem Regalbrett über ihrem Schreibtisch und blätterte, bis sie zu den Teilnehmern namens Perkins kam. Hebe Jones schreckte nicht davor zurück, nach der berüchtigten Nadel im Heuhaufen zu suchen, denn dazu waren sie und Valerie Jennings schon des Öfteren gezwungen gewesen. Gelegentliche Erfolge verleiteten sie dazu, in hoffnungslosen Fällen darauf zurückzugreifen. Sie las den ersten Eintrag und wählte.
»Hallo, spreche ich mit Mr. Perkins?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete eine Stimme.
»Hier ist Mrs. Jones vom Fundbüro der Londoner Untergrundbahn. Ich rufe an, weil ich wissen wollte, ob Sie zufällig in letzter Zeit etwas in der U-Bahn verloren haben.«
»Ich wünschte, es wäre so, Schätzchen, aber ich habe das Haus schon zwanzig Jahre nicht mehr verlassen.«
»Dann entschuldige ich mich für die Störung.«
»Ist schon in Ordnung, Schätzchen. Auf Wiederhören.«
Sie schaute ins Telefonbuch und wählte erneut.
»Hallo, spreche ich mit Dr. Perkins?«
»Wer ist denn da?«
»Mrs. Jones vom Fundbüro der Londoner Untergrundbahn.«
»Mrs. Perkins ist bei der Arbeit. Ich bin die Putzfrau.«
»Wissen Sie, ob Dr. Perkins zufällig in letzter Zeit eine Holzkiste in der U-Bahn vergessen hat? An der Kiste ist eine Messingplakette mit der Aufschrift Clementine Perkins angebracht.«
»Das glaube ich eher nicht«, sagte die Frau. »In Dr. Perkins’ Familie gibt es keine Clementine.«
Als Hebe Jones den Hörer auflegte, kam Valerie Jennings in ihren flachen schwarzen Schuhen herein. Als sie ihren blauen Mantel an den Ständer neben der aufblasbaren Puppe hängte, beschwerte sie sich nicht wie sonst über die Verspätungen auf der Northern Line, die zur Folge hatten, dass sie länger als nötig auf ungebührliche Weise gegen ihre Mitreisenden gequetscht wurde. Auch über die bittere Kälte an diesem Morgen und über den Schnee, der bald kommen würde, was sie immer am Jucken ihrer Fußballen spürte, verlor sie kein Wort. Und als sie den Kühlschrank öffnete, konnte man ihrem Gesicht auch nicht den geringsten Vorwurf ablesen, dass aus dem Versteck hinter der Karottensuppe das Mandeltörtchen verschwunden war.
»Du bist doch nicht immer noch sauer wegen dieser Ohren, oder?«, erkundigte sich Hebe Jones, die daran dachte, wie sie Valerie Jennings endlich aus dem Vorderteil des Pferdekostüms hatte befreien können. Dabei hatte sie nämlich die Ohren abgerissen und ihre Kollegin fast zu Fall gebracht. »Ich habe das Pferd gestern Abend mit nach Hause genommen, und Balthazar hat gesagt, dass er sie wieder annähen kann. Man wird nichts mehr sehen.«
»Nein, viel schlimmer«, sagte Valerie Jennings.
»Was denn?«, fragte Hebe Jones.
»Als du gestern Nachmittag weg warst, hat mich Arthur Catnip gefragt, ob ich mit ihm essen gehen möchte.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ja … Er hat mich vollkommen überrumpelt.«
Eine Pause trat ein.
»Und es kommt noch schlimmer«, fuhr Valerie Jennings fort.
»Inwiefern?«
»Ich habe gar keine Lust dazu.«
Nach
Weitere Kostenlose Bücher