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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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einem gänzlich erfolglosen Bürotag ging Hebe Jones gebückt durch die finstere Water Lane. Obwohl es ihr recht war, dass die Touristen schon aus dem Tower ausgesperrt waren, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, graute ihr im Winter, wenn das einzige Licht von dem hinter den Wolken versteckten Mond kam, vor dem einsamen Weg. Als sie am Verrätertor vorbeiging, dachte sie an den Tag, als Milo nach den Münzen getaucht war, die die Touristen in das hereinschwappende Themsewasser warfen. Ohne sich um die in der Festung herumlaufenden Besucher zu kümmern, hatten er und Charlotte Broughton ihre Kleider abgelegt und waren in Unterwäsche die verbotenen Stufen zum Wasser hinabgestiegen. Bis sie von einem Beefeater entdeckt wurden, hatten sie schon etliche Hände voll Münzen herausgeholt. In ihrer tropfnassen Unterwäsche liefen sie die Treppe wieder hoch, wichen dem Mann aus und rannten über das Straßenpflaster davon. Als sie die Mint Street entlangschossen, schauten etliche Beefeater, die schon Feierabend hatten, aus dem Wohnzimmerfenster und schlossen sich der Jagd an. Schließlich wurden die beiden am Flint Tower gestellt, wo sie mit hängendem Kopf vor sich hin tropften. Sie bekamen nicht nur den Zorn ihrer Eltern und sämtlicher Beefeater zu spüren, sondern mussten auch noch dem Chief Yeoman Warder Rede und Antwort stehen. Die Münzen wurden ordnungsgemäß ins abgestandene Wasser zurückgeworfen, und nur eine goldene Zwanzig-Schilling-Münze, die Milo in seine Unterhose gesteckt hatte, fand den Weg zu seinen anderen Schätzen in der Farrah’s-Harrogate-Toffee-Dose. Dort blieb sie, bis Milo sie Charlotte Broughton zwei Jahre später im Austausch gegen einen Kuss schenkte.
    Der Salt Tower lag im Dunkeln, als Hebe Jones dort eintraf. Nur im Obergeschoss brannte Licht. Als sie am Fuß der Wendeltreppe an Milos Zimmertür vorbeikam, fragte sie sich, ob ihr Ehemann wohl daran denken würde, dass ihr Sohn am nächsten Tag vierzehn Jahre alt geworden wäre. Im Schlafzimmer zog sie sich etwas Wärmeres an und dachte an die Zeiten, als sie bei ihrer Heimkehr noch begrüßt worden war. Sie ging in die Küche hinunter, und während sie im Schrank nach einer Pfanne suchte, erinnerte sie sich an die Abende, an denen es so laut gewesen war, dass sie die Tür hatte schließen müssen. Wenn ihr Ehemann nicht auf Milos Kazoo Phil-Collins-Hits gespielt hatte – eine derart unerträgliche Angewohnheit, dass sie schließlich das Instrument versteckt hatte –, dann waren seine Versuche, Milo bei den Hausaufgaben zu helfen, für den Lärm verantwortlich gewesen. Mit Ausnahme von englischer Geschichte marschierte Balthazar Jones im Wohnzimmer umher und schlug vollkommen abwegige Antworten vor. Wenn er etwas gefragt wurde, auf das er die Antwort nicht einmal raten konnte, tat er alles, um zu verschleiern, dass er genauso auf dem Schlauch stand wie sein Sohn. Unter dem Vorwand, aufs Klo zu müssen, begab er sich nicht selten zu dem heiligen Text, den er hinter seinem Bett aufbewahrte und der den Schlüssel zu der beunruhigendsten Geheimwissenschaft der Welt enthielt: Bruchrechnung. Triumphierend erschien er dann wieder in der Wohnzimmertür, bemüht, sich die entscheidende Rechenformel zu merken, und so kämpften die beiden weiter, bis sie das Monster endlich besiegt hatten.
    Als das Abendessen fertig war, ging sie durch das leere Wohnzimmer zur Wendeltreppe und rief zum Obergeschoss hoch, das sie nie betrat. Nachdem sie die Koteletts gegessen hatten, stand Balthazar Jones auf, um den Abwasch zu erledigen, und verschwand dann erneut in seinem Himmelskabuff. Ein paar Stunden später begegneten sie sich im Bett wieder. Als Hebe Jones die Umrisse ihres Ehemanns in der Dunkelheit sah, dachte sie: Bitte vergiss nicht, was morgen für ein Tag ist.

KAPITEL NEUN
    Balthazar Jones wachte früh auf und drehte sich auf den Rücken, weg von seiner Ehefrau, die im Traum vor sich hin murmelte. Als er darauf wartete, wieder einzuschlafen, kam ihm die Frage in den Sinn, die ihm Hebe Jones in der vergangenen Woche gestellt hatte. Er versuchte sich vorzustellen, wie groß Milo mittlerweile wäre und wie sein Gesicht, das ihm stets als das eines Engels erschienen war, wohl aussehen würde. Ihm würde das Vergnügen versagt bleiben, seinem Sohn beizubringen, wie man sich rasiert, und das Rasiermesser, das dem Großvater des Jungen gehört hatte und in einer zerbeulten Silberdose durch ganz Indien gereist war, würde in der Sockenschublade liegen

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