Der verborgene Charme der Schildkröte
Perkins zurückkam, knöpfte sie neben der Schublade mit den einhundertsiebenundfünfzig Gebissen ihren türkisfarbenen Mantel auf.
»Und?«, fragte Valerie Jennings.
»Es war die falsche Person«, antwortete sie, nahm die Urne aus der Handtasche und begab sich zu ihrem Schreibtisch.
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Hast du etwas Schönes vor?«, fragte Valerie Jennings.
»Nein, wieso?«
»Der Koffer unter deinem Schreibtisch.«
Es dauerte nicht lange, und ihr schossen die Tränen in die Augen. Hebe Jones weinte um ihren Ehemann, auf den sie sich bis zum Moment der Tragödie tagtäglich gefreut hatte, obwohl sie schon drei Jahrzehnte miteinander verheiratet waren. Sie weinte um Milo, der ganz alleine im Himmel war und den sie so gerne wiedersehen würde. Und als sie schon dachte, ausgeweint zu haben, weinte sie auch noch um den unauffindbaren Fremden, der die sterblichen Überreste von Clementine Perkins verloren hatte. Erst als Valerie Jennings sie eine Stunde später in den Lehnstuhl mit der ausklappbaren Fußstütze gesetzt hatte und ihren Koffer ins Gästezimmer trug, versiegte der Strom der Tränen schließlich.
KAPITEL ZWÖLF
Rev. Septimus Drew schritt durch die Grünanlagen des Towers und hinterließ dunkle Fußstapfen im steifen, gefrorenen Gras. Ein Gutteil der Nacht hatte er über Ruby Dores Liebe zu den Kreaturen, die in der Bibel keine Erwähnung wert waren, nachgegrübelt und sich selbst bemitleidet, weil er die Wirtin nicht mit dem Treacle Cake seiner Mutter hatte verführen können. Als er dann aufwachte, war nicht einmal mehr Zeit für die exzellente Fortnum & Mason’s Orangenmarmelade, grob geschnitten. So schnell seine übermäßig langen Beine es zuließen, eilte er aus der Festung und ignorierte den Yeoman Gaoler, der am Schlafzimmerfenster stand und seinen Namen rief. Als er auf dem Weg zum Heim für ehemalige Freudendamen im U-Bahn-Waggon saß, stahlen sich seine Finger in die Blechdose auf seinem Schoß und brachen ein Stück von einem der Kekse ab, die er für die Frauen gebacken hatte. Jeder Keks hatte die Gestalt eines Jüngers; die Gesichter waren mit einer Spritztülle sorgfältig aufgemalt. Während er kaute, hoffte er, dass niemandem auffallen würde, dass Judas Ischariot nur ein Bein hatte.
Als er ankam, hatte die Oberin der neuen Bewohnerin bereits ihr Zimmer mit dem Einzelbett und dem Holzkreuz darüber gezeigt. Nun saß er ihr im Gemeinschaftsraum gegenüber und erklärte, dass sie sechs Monate lang freie Unterkunft und Verpflegung bekomme und dass man sie in dieser Zeit dabei unterstütze, eine andere Arbeit zu finden. In der Zwischenzeit könne sie, wenn sie möge, den anderen Frauen im Küchengarten helfen. Das sei ein echter Liebesdienst, erklärte er, denn außer dem Gebet gebe es nichts Erfrischenderes für die Seele, als in Gottes schöner Erde etwas wachsen zu lassen. Er bot der Frau die Keksdose an, und sie bediente sich mit ihren lackierten Nägeln. Nachdem sie sich die Krümel vom roten Mund gewischt hatte, gratulierte sie dem Geistlichen zu seinen Backkünsten und erkundigte sich höflich, ob Judas Ischariot tatsächlich behindert war.
Als der Kaplan in den Tower zurückgekehrt war und vor der blauen Haustür nach seinem Schlüssel suchte, trat ein Tourist an ihn heran und fragte, ob er wisse, wo der Zorilla gehalten werde. »Da hinten rechts«, sagte der Geistliche und zeigte in die Richtung. »Immer der Nase nach.« Drinnen schloss er die Tür hinter sich ab und stieg die ausgetretenen Holzstufen zu seinem Arbeitszimmer hinauf. Er nahm seinen Füllfederhalter und entwarf eine hinreichend pikante Predigt, um die Beefeater aus dem Schlaf zu rütteln.
Der Geistliche war so versunken in seine Arbeit, dass er das erste Klopfen an der Haustür gar nicht hörte. Das zweite ignorierte er, weil er befürchtete, es könne die Vorsitzende der Richard-III.-Rehabilitierungsgesellschaft sein. Er hatte sie auf ihrer Bank vor dem White Tower sitzen sehen und sofort eine Frau in ihr erkannt, die nur darauf wartete, ihn von den neuesten Indizien für ein astreines Alibi des Königs in Kenntnis zu setzen.
Beim dritten Klopfen legte Rev. Septimus Drew verärgert seinen Füllfederhalter hin und presste die Stirn an die kalte Fensterscheibe, um nachzuschauen, wer da wohl war. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er sah, dass sich Ruby Dore wegen der Kälte in die Finger blies und mit den Füßen aufstampfte. Er nahm die Stufen mit einem solchen Schwung, dass ihn die
Weitere Kostenlose Bücher