Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
fortgelaufen und nie wieder zurückgekommen. Nie wieder ein Wort von meiner Georgiana …«
Rose Mountrachet war ein artiges Mädchen, und sie kannte die Regeln. Von klein auf mit nur wenigen Unterbrechungen ans Krankenbett gefesselt, hatte sie sich immer und immer wieder die Vorträge ihrer Mutter über die Benimmregeln und die ungeschriebenen Gesetze der feinen Gesellschaft anhören müssen. Rose wusste genau, dass eine Dame vormittags niemals Perlen
oder Diamanten tragen und unter gar keinen Umständen einen Gentleman allein besuchen durfte. Und vor allem wusste Rose, dass es galt, um jeden Preis einen Skandal zu vermeiden, denn ein Skandal war ein Übel, das eine Dame auf der Stelle vernichten konnte. Oder zumindest ihren guten Ruf.
Aber die Erwähnung ihrer auf Abwege geratenen Tante, der peinigende Ruch eines Familienskandals, beunruhigte Rose keineswegs, sondern jagte ihr prickelnde Schauer über den Rücken. Zum ersten Mal seit Jahren klopfte ihr Herz vor Aufregung. Sie beugte sich noch dichter über Großmama, hoffte, dass sie fortfahren würde, begierig, ihren Worten zu lauschen, die in dunkle, unbekannte Gewässer führten.
»Wer, Großmama?«, drängte Rose. »Wer hat ihr nachgestellt, mit wem ist sie davongelaufen?«
Aber Großmama antwortete nicht. Was für Bilder es auch sein mochten, die in ihrem Kopf auftauchten, sie ließen sich nicht manipulieren. Vergeblich versuchte Rose es noch mehrmals. Am Ende musste sie sich damit zufrieden geben, allein über ihre Fragen nachzugrübeln.
Dieser Zeitvertreib erwies sich als äußerst erquicklich, und nach einer Weile hatte sie sich für die skandalöse Georgiana diverse Biografien ausgedacht. Für Rose bedeutete diese geheimnisvolle Tante eine Lebensader. Manchmal flüsterte sie den Namen immer und immer wieder vor sich hin wie ein Mantra. Genoss es, den geheimnisvollen Klang der Silben über ihre Zunge rollen zu lassen. Auch später, in Zeiten der Krankheit oder der Langeweile, beschwor sie den Namen herauf. Dann lag sie im Bett, schloss die Augen, um die Welt um sich herum auszuschließen, und flüsterte: »Georgiana … Georgiana … Georgiana …« Für sie wurde der Name zum Symbol für düstere, harte Zeiten. Für alles Ungerechte und Böse in der Welt …
»Rose?« Mamas Brauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen, das sie zu verbergen suchte, doch Rose hatte einen geübten
Blick. »Hast du etwas gesagt, mein Kind? Du hast vor dich hin geflüstert. Wie fühlst du dich?«
Sie legte Rose eine Hand auf die Stirn, um ihre Temperatur zu fühlen.
»Es geht mir gut, Mama, ich war nur ein bisschen in Gedanken.«
»Du wirkst erhitzt.«
Rose fasste sich an die Stirn. War sie erhitzt? Sie konnte es nicht feststellen.
»Ich werde Doktor Matthews noch einmal herschicken, bevor er sich verabschiedet«, sagte Mama. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«
Rose schloss die Augen. Noch ein Besuch von Dr. Matthews, der zweite an ein und demselben Nachmittag. Das war zu viel.
»Du bist heute zu schwach, um deine neue Aufgabe in Angriff zu nehmen«, sagte Mama. »Ich werde mit dem Arzt sprechen, und wenn er es für vertretbar hält, werde ich dir Eliza morgen vorstellen. Eliza! Stell dir bloß mal vor, dass die Tochter eines Seemanns den Familiennamen der Mountrachets trägt!«
Ein Seemann, das war eine interessante Neuigkeit. Rose riss die Augen auf. »Wie bitte?«
Mama errötete. Sie hatte mehr gesagt als beabsichtigt, ein ungewöhnlicher Ausrutscher. »Der Vater deiner Cousine war Seemann, wir sprechen nicht über ihn.«
»Mein Onkel war ein Seemann?«
Mama schlug sich die schmale Hand vor den Mund. »Er war nicht dein Onkel, Rose, er hatte weder für dich noch für mich eine Bedeutung. Er war ebenso wenig mit deiner Tante Georgiana verheiratet wie ich.«
»Aber Mama!« Das war ja noch skandalöser, als Rose es sich auszumalen gewagt hätte. »Wie meinst du das?«
»Eliza mag deine Cousine sein, Rose«, sagte Mama leise, »und uns bleibt nichts anderes übrig, als sie bei uns aufzunehmen.
Aber sie ist von niedriger Geburt, vergiss das nicht. Sie kann sich glücklich schätzen, dass der Tod ihrer Mutter sie nach Blackhurst zurückgeführt hat, nach all der Schande, die diese Frau über die Familie gebracht hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Als sie damals weggelaufen ist, wäre dein Vater beinahe vor Gram gestorben. Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn ich ihm nicht während der Zeit des Skandals beigestanden
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