Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gestorben ist. Ihre leiblichen Eltern waren Rose und Nathaniel Walker. Er war …«
»Künstler, ich weiß. Ich habe ein Buch mit Illustrationen von ihm, ein Märchenbuch.«
»Zauberhafte Märchen für Mädchen und Jungen?«
»Ja, genau.« Er schaute sie überrascht an.
»Ich habe auch ein Exemplar.«
Er hob die Brauen. »Das war eine ganz kleine Auflage, wissen Sie, jedenfalls nach heutigen Maßstäben. Wussten Sie übrigens, dass Eliza Makepeace hier in diesem Haus gewohnt hat?«
Cassandra schüttelte den Kopf. »Ich wusste nur, dass sie auf dem Anwesen aufgewachsen ist …«
»Sie hat die meisten ihrer Geschichten hier in diesem Garten geschrieben.«
»Sie scheinen ja eine ganze Menge über Eliza Makepeace zu wissen.«
»Ich habe neulich ihre Märchen noch einmal gelesen. Als Junge habe ich mir das Buch auf dem Wohltätigkeitsbasar der Gemeinde gekauft und die Märchen verschlungen. Sie hatten eine regelrecht magische Wirkung auf mich.« Er trat mit dem Fuß nach einem Erdklumpen. »Ziemlich merkwürdig, nicht? Ein erwachsener Mann, der Kindermärchen liest.«
»Nein, finde ich überhaupt nicht.« Cassandra sah, wie er, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern kreisen ließ. Beinahe, als wäre er nervös. »Welches war denn Ihr Lieblingsmärchen?«
Er legte den Kopf schief und blinzelte in die Sonne. » Die Augen des alten Weibleins .«
»Wirklich? Warum?«
»Es kam mir immer anders vor als die anderen Märchen. Irgendwie bedeutungsvoller. Außerdem hab ich mich als Achtjähriger
fürchterlich in die Prinzessin verliebt.« Er lächelte schüchtern. »Wie soll man auch ein Mädchen nicht mögen, dem das Schloss zerstört, die Untertanen abgeschlachtet und das Königreich verwüstet wurden und das trotz allem den Mut aufbringt, sich auf die Suche nach den Augen des alten Weibleins zu machen?«
Cassandra musste auch lächeln. Das Märchen von der tapferen Prinzessin, die nicht wusste, dass sie eine Prinzessin war, war das erste in Eliza Makepeaces Buch, das sie gelesen hatte. An jenem heißen Tag in Brisbane, als sie als Zehnjährige das Verbot ihrer Großmutter missachtet und den Koffer unter dem Bett entdeckt hatte.
Christian vergrub seine Hände noch tiefer in den Hosentaschen. »Ich nehme an, Sie werden versuchen, das Haus zu verkaufen?«
»Warum? Wären Sie daran interessiert?«
»Von dem Geld, das Mike mir zahlt?« Ihre Blicke begegneten sich ganz kurz. »Machen Sie sich lieber keine Hoffnungen.«
»Ich weiß nicht, wie ich es renovieren soll«, sagte Cassandra. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass sich hier alles in einem derart desolaten Zustand befindet. Der Garten, das Haus selbst.« Sie zeigte über die Mauer hinweg. »Im Dach ist ein Riesenloch!«
»Wie lange sind Sie noch hier?«
»Ich habe im Hotel für zwei Wochen ein Zimmer gebucht.«
Er nickte. »Das dürfte reichen.«
»Meinen Sie?«
»Sicher.«
»Sie Optimist. Warten Sie ab, bis Sie mich mit einem Hammer hantieren sehen.«
Er reckte sich, um eine herabhängende Glyzinienranke zwischen die anderen zu flechten. »Ich helfe Ihnen.«
Cassandra wurde verlegen - anscheinend hatte er ihre Bemerkung als versteckte Aufforderung verstanden. »Ich meinte
nicht … Ich wollte nicht …« Sie seufzte. »Ich habe überhaupt kein Geld für solche Restaurierungsarbeiten.«
Zum ersten Mal lächelte er übers ganze Gesicht. »Bei meinem Bruder verdiene ich auch fast nichts, da arbeite ich doch lieber für gar nichts an einem Haus, das mir am Herzen liegt.«
33 Tregenna Cornwall, 1975
Nell schaute auf das bewegte Meer hinaus. Es war der erste verhangene Tag, seit sie in Cornwall eingetroffen war. Die ganze Landschaft schien zu zittern, die weißen Häuser, die sich an die kalten Felsen duckten, die silbrigen Möwen, der graue Himmel über dem aufgewühlten Meer.
»Die beste Aussicht in ganz Cornwall«, verkündete die Immobilienmaklerin.
Nell würdigte die dumme Bemerkung keines Kommentars und schaute weiter aus dem kleinen Dachfenster.
»Nebenan ist noch ein Schlafzimmer. Kleiner, aber ein Bett passt rein.«
»Ich brauche noch ein bisschen länger, um mich umzusehen«, sagte Nell. »Wenn ich fertig bin, komme ich nach unten.«
Die Frau verzog sich, und eine Minute später sah Nell sie vor dem Haus, wo sie ihre Jacke fester um sich zog.
Nell beobachtete, wie die Frau sich abmühte, sich bei dem heftigen Wind eine Zigarette anzuzünden, dann ließ sie ihren Blick zum Garten hinüberwandern. Von dem Dachfenster aus war nicht viel zu
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