Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
erotische Stimmung, das Gefühl der verbotenen Lust.
Cassandra schüttelte den Kopf, um die verwirrenden, unerwünschten Empfindungen loszuwerden, und konzentrierte sich auf Nells Geheimnis. Am Vorabend hatte sie noch bis in die Nacht hinein in ihrem Notizheft gelesen, nach wie vor ein schwieriges Unterfangen. Als hätte der Schimmel die Sache nicht schon schlimm genug gemacht, war Nells ohnehin schon schwer leserliche Schrift noch krakeliger geworden, als sie nach Cornwall gekommen war. Manches war kaum mehr als Kritzelei, wahrscheinlich in aller Hast aufs Papier geworfen.
Dennoch gelang es ihr, die Zeilen zu entziffern. Sie war völlig fasziniert gewesen von Nells wiederkehrenden Erinnerungen, ihrer Gewissheit, dass sie als kleines Mädchen schon einmal in dem Haus gewesen war. Cassandra konnte es kaum erwarten, die Notizhefte zu lesen, die Julia entdeckt hatte, die Tagebücher, denen Nells Mutter einst ihre geheimsten Gedanken anvertraut hatte. Darin würde sie garantiert etwas Erhellendes über Nells Kindheit finden und womöglich sogar Hinweise darauf, wie und warum Nell mit Eliza Makepeace zusammen verschwunden war.
Ein Pfeifen, laut und schrill. Cassandra blickte auf in der Erwartung, irgendeinen Vogel zu erblicken.
Michael stand an der Hausecke und beobachtete sie. Er deutete auf die Brombeerhecke. »Das ist ja ein eindrucksvolles Gestrüpp!«
»Ich schneide es ein bisschen runter, dann geht’s schon«, sagte sie und richtete sich unbeholfen auf. Hatte er sie schon länger beobachtet?
»Wenn Sie dem Zeug beikommen wollen, müssen Sie ihm schon mit der Kettensäge zu Leibe rücken«, sagte er grinsend.
»Ich fahre jetzt zum Hotel.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zum Haus hinüber. »Das Gröbste ist geschafft. Ich lasse Chris hier, der kann den Rest erledigen. Das kriegt er schon hin, aber vielleicht sollten Sie darauf achten, dass er alles so hinterlässt, wie Sie es gern hätten.« Er lächelte wieder auf seine unbefangene Art. »Sie haben doch meine Nummer, nicht wahr? Rufen Sie mich an, dann zeige ich Ihnen ein bisschen die Gegend, solange Sie hier sind.«
Es war keine Frage. Cassandra lächelte zaghaft und bereute es auf der Stelle. Sie hatte den Verdacht, dass Michael zu der Sorte Menschen gehörte, die jede Reaktion als Zustimmung auffasste. Prompt zwinkerte er ihr zu, als er zurück zum Haus ging.
Seufzend wandte sie sich wieder der Hecke zu. Christian war durch das Loch geklettert, das der Baum ins Dach geschlagen hatte, hockte auf dem Dach und war dabei, mit einer Handsäge die Äste zu zerkleinern. Während Michael völlig lässig war, strahlte Christian bei allem, was er tat und anfasste, eine unglaubliche Intensität aus. Als er seine Sitzposition veränderte, wandte Cassandra den Blick ab und tat, als würde sie sich nur für ihre Hecke interessieren.
So arbeiteten sie jeder für sich weiter, und die konzentrierte Stille, die sich über sie legte, verstärkte alle anderen Geräusche: das Schnarren von Christians Säge, das Trippeln der Vögel auf den Dachschindeln, das leise Plätschern eines entfernten Rinnsals. Normalerweise genoss Cassandra es, schweigend zu arbeiten, sie war es gewöhnt, allein zu sein, und bevorzugte es sogar meistens. Nur jetzt war sie nicht allein, und je länger sie so tat, als sei sie es doch, desto mehr Spannung schien in der Luft zu liegen.
Schließlich hielt sie es nicht länger aus. »Hinter dieser Hecke befindet sich eine Mauer«, sagte sie lauter und schärfer als beabsichtigt. »Ich hab sie heute Morgen entdeckt.«
Christian blickte von seiner Arbeit auf. Schaute Cassandra an, als hätte sie soeben das Periodensystem aufgesagt.
»Aber ich weiß nicht, was sich dahinter verbirgt«, fuhr sie hastig fort. »Ich kann keinen Durchgang finden, und auf dem Lageplan, den meine Großmutter beim Kauf des Grundstücks bekommen hat, ist nichts eingezeichnet. Es ist alles von Ranken überwuchert, aber vielleicht können Sie ja von da oben was sehen?«
Christian betrachtete seine Hände, schien etwas sagen zu wollen.
Cassandra dachte: Er hat schöne Hände. Dann schob sie den Gedanken gleich wieder beiseite. »Können Sie sehen, was sich hinter der Mauer befindet?«
Er presste die Lippen zusammen, wischte sich die Hände an seinen Jeans ab und nickte schüchtern.
»Wirklich?« Damit hatte sie nicht gerechnet. »Was ist denn da? Können Sie es mir beschreiben?«
»Ich hab eine bessere Idee«, sagte er und schickte sich an, vom Dach herunterzuklettern.
Weitere Kostenlose Bücher