Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
einem glänzenden, pinkfarbenen Kimono. »Kommen Sie rein«, sagte sie mit einer einladenden Geste und ging voraus. »Ich bin gerade dabei, das Essen aufzutischen. Ich hoffe, Sie mögen italienische Küche.«
»Und wie«, erwiderte Cassandra und folgte ihrer Gastgeberin in die Wohnung.
Das Dachgeschoss, das einmal ein Labyrinth aus winzigen Mansardenzimmern für eine Armee von Hausmädchen beherbergt hatte, war in ein riesiges, sonniges Apartment im Stil eines Lofts umgewandelt worden. An beiden Seiten befanden sich große Gauben, die bei Tageslicht eine großartige Aussicht auf das Anwesen bieten mussten.
Cassandra blieb in der Küchentür stehen. Auf jeder verfügbaren Fläche standen Schüsseln, Messbecher, offene Konservendosen, kleine Schalen mit Olivenöl und Zitronensaft und anderen geheimnisvollen Zutaten. Da sie nicht wusste, wo sie ihre Weinflasche abstellen sollte, hielt sie sie Julia hin.
»Ach, wie aufmerksam von Ihnen!« Julia entkorkte die Flasche, angelte ein Glas von einem Regal über der Anrichte und füllte es mit einer theatralischen Geste aus großer Höhe. Sie leckte einen Tropfen Wein von ihrem Finger. »Ich persönlich trinke eigentlich
nichts anderes als Gin«, sagte sie mit einem Augenzwinkern. »Das ist reines Zeug, hält einen jung, wissen Sie.« Sie reichte Cassandra das Glas mit der sündhaft roten Flüssigkeit und verließ die Küche. »Kommen Sie, machen Sie es sich bequem.«
Julia deutete auf einen Sessel in der Mitte des Lofts, und Cassandra setzte sich. Vor ihr stand eine hölzerne Seekiste, die als Tisch diente, und darauf lag ein Stapel alter, in abgegriffenes Leder gebundene Notizhefte.
Vor lauter Aufregung schoss Cassandra eine heiße Welle durch den Körper, und es juckte sie in den Fingern, sofort nach den Heften zu greifen. Das waren die Tagebücher ihrer Urgroßmutter, der Mutter von Nell, in denen sie ihre jugendlichen Gedanken und Gefühle festgehalten hatte.
»Während ich mich um das Essen kümmere, können Sie schon mal in aller Ruhe einen Blick hineinwerfen.«
Das ließ Cassandra sich nicht zweimal sagen. Sie nahm das oberste Heft und fuhr ganz sanft mit der Hand über den Einband, dessen Leder vom vielen Anfassen schon ganz dunkel war und sich so weich und glatt wie Samt anfühlte.
Mit angehaltenem Atem schlug Cassandra das Heft auf. In einer hübschen, sauberen Handschrift stand auf der ersten Seite: Rose Elizabeth Mountrachet Walker, 1909 . Vorsichtig strich sie mit dem Finger über die einzelnen Worte, spürte die kaum wahrnehmbaren Erhebungen auf dem Papier. Stellte sich die spitze Feder vor, mit der sie geschrieben worden waren. Langsam blätterte sie die Seite um und las den ersten Eintrag.
Ein neues Jahr. Und eins, das so viele großartige Ereignisse verspricht. Ich kann mich kaum konzentrieren, seit Dr. Matthews hier war und mir seine Diagnose verkündet hat. Ich muss gestehen, dass ich wegen der gehäuft auftretenden Ohnmachtsanfälle in letzter Zeit ziemlich beunruhigt war - und nicht nur ich allein. Mama stand die Sorge ins
Gesicht geschrieben. Während Dr. Matthews mich untersuchte, habe ich ganz still dagelegen und an die Decke geschaut, habe meine Angst bekämpft, indem ich mir die glücklichsten Momente meines Lebens in Erinnerung gerufen habe. Meine Hochzeit natürlich, meine Reise nach New York, den Sommer, in dem Eliza nach Blackhurst gekommen ist … Wie strahlend solche Erinnerungen einem erscheinen, wenn das Leben, dessen Bestandteile sie sind, in Gefahr zu sein scheint!
Später, als Mama und ich nebeneinander auf dem Sofa saßen und auf Dr. Matthews’ Diagnose warteten, hat sie meine Hand genommen. Ihre Finger waren ganz kalt. Ich habe Mama angesehen, aber sie ist meinem Blick ausgewichen. Und da habe ich wirklich Angst bekommen. Während all der Krankheiten, die ich als Kind durchgemacht habe, war Mama immer voller Zuversicht. Ich fragte mich, warum sie jetzt so verzagt wirkte, welche Befürchtungen sie so ängstigten. Als Dr. Matthews sich räusperte, habe ich Mamas Hand fest gedrückt. Aber was er dann sagte, war so unfassbar, das ich es kaum mit Worten beschreiben kann.
»Sie sind schwanger, meine Liebe. So Gott will, werden Sie im August niederkommen.«
Ach, wie soll ich nur das Glück beschreiben, das diese Worte auslösten? Nach so langer vergeblicher Hoffnung, nach all den schrecklichen Monaten der Enttäuschung. Ein Baby, das ich lieben kann. Ein Erbe für Nathaniel, ein Enkel für Mama und ein Patenkind für
Weitere Kostenlose Bücher