Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Eliza.
Cassandra brannten die Augen. Sich vorzustellen, dass das Kind, dessen Zeugung Rose bejubelte, Nell gewesen war. Dieses so inniglich herbeigesehnte Kind war Cassandras geliebte, verloren gegangene Großmutter. Roses hoffnungsvolle Gefühle waren umso rührender, als sie beim Niederschreiben natürlich nicht hatte ahnen können, was die Zukunft für sie bereithielt.
Hastig blätterte Cassandra weiter in dem Tagebuch, überschlug Seiten, in denen kleine Stückchen Spitze und Seidenband eingeklebt waren, die kurze Bemerkungen über die Besuche des Arztes enthielten, über Einladungen zu allen möglichen Dinners und Bällen im ganzen County, bis sie schließlich unter dem Datum November 1909 fand, was sie suchte.
Sie ist da! - Ich schreibe diese Zeilen etwas später als erwartet. Die vergangenen Monate waren doch schwieriger als gedacht, aber es war die Mühe wert. Nach der langen Zeit der vergeblichen Hoffnung, nach all den Monaten der Krankheit und Sorge und Bettlägerigkeit halte ich mein geliebtes Kind in den Armen, und das lässt mich alles vergangene Elend vergessen. Sie ist perfekt. Ihre Haut ist so cremig zart, ihre Lippen so voll und rosig. Ihre Augen schimmern hellblau, aber der Arzt sagt, alle Neugeborenen haben blaue Augen, und es kann sein, dass sie später dunkel werden. Insgeheim hoffe ich, dass er sich irrt. Ich wünsche mir, dass sie eine echte Mountrachet wird wie Vater und Eliza: blaue Augen und rotes Haar. Wir haben uns entschlossen, sie Ivory zu nennen, Elfenbein. Es ist die Farbe ihrer Haut und, wie sich mit der Zeit sicherlich herausstellen wird, ihrer Seele.
»So, das Essen ist fertig.« Julia kam mit zwei Tellern voll dampfender Nudeln aus der Küche, unter dem Arm eine riesige Pfeffermühle. »Ravioli mit Pinienkernen und Gorgonzola.« Sie reichte Cassandra einen Teller. »Vorsicht, heiß.«
Cassandra legte das Tagebuch zur Seite und nahm den Teller entgegen. »Das duftet ja köstlich.«
»Wenn ich nicht Schriftstellerin, dann Dekorateurin und schließlich Hotelbesitzerin geworden wäre, dann wäre ich mit Sicherheit Köchin geworden. Prost.« Julia hob ihr Glas mit Gin,
trank einen Schluck und seufzte. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein ganzes Leben aus einer Reihe von Zufällen besteht - nicht dass ich mich beklage, man kann durchaus glücklich werden, auch wenn man nicht immer alles unter Kontrolle hat.« Sie spießte zwei Ravioli auf ihre Gabel. »Aber ich will Sie nicht mit meiner Lebensgeschichte langweilen. Wie läuft’s denn im Cliff Cottage?«
»Sehr gut«, antwortete Cassandra. »Aber je mehr ich in Ordnung bringe, desto mehr sehe ich, was alles noch getan werden muss. Der Garten ist völlig verwildert, und das Haus selbst befindet sich in einem bedauernswerten Zustand. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob die Bausubstanz noch in Ordnung ist oder nicht. Wahrscheinlich sollte ich einen Statiker kommen lassen, aber dazu bin ich noch nicht gekommen, ich habe so viel um die Ohren. Es ist alles ziemlich …«
»Überwältigend?«
»Ja, überwältigend, sogar noch mehr als das.« Cassandra suchte nach dem passenden Wort und war selbst überrascht, als es ihr wie von selbst über die Lippen kam. »… Aufregend. Ich habe dort nämlich etwas gefunden.«
»Etwas gefunden?« Julia hob die Brauen. »Einen verborgenen Schatz oder so was?«
»Wenn Sie Schätze mögen, die grün und fruchtbar sind.« Cassandra biss sich auf die Unterlippe. »Es ist ein verborgener Garten, ein von einer Mauer umgebener Garten hinter dem Haus. Ich glaube, dass schon seit Jahrzehnten niemand mehr in diesem Garten gewesen ist, was kein Wunder ist bei der hohen Mauer, die noch dazu völlig überwuchert ist mit Brombeerranken. Man würde nie vermuten, dass er sich überhaupt an dieser Stelle befindet.«
»Und wie haben Sie ihn entdeckt?«
»Eigentlich per Zufall.«
Julia schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Zufälle.«
»Ich hatte ehrlich keine Ahnung, dass es diesen Garten gibt.«
»Das wollte ich damit auch nicht andeuten. Ich denke nur, dass der Garten sich vielleicht vor denjenigen versteckt hat, von denen er nicht gefunden werden wollte.«
»Also ich bin jedenfalls froh, dass er sich mir gezeigt hat. Dieser Garten ist wirklich unglaublich. Er ist völlig verwildert und zugewuchert, aber unter den Brombeerranken haben alle möglichen Pflanzen überlebt. Es gibt schmale, mit Steinen gepflasterte Wege, Gartenbänke und Vogeltränken.«
»Er hat viele
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