Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Jahre lang einen Dornröschenschlaf geschlafen, bis jemand kam, der den Bann gebrochen hat.«
»Aber das ist es ja gerade: Er hat gar nicht geschlafen. Die Bäume sind weitergewachsen und tragen jede Menge Früchte, obwohl niemand da ist, der sich daran erfreuen kann. Sie müssten den Apfelbaum mal sehen, der sieht aus, als wäre er hundert Jahre alt.«
»Ist er auch«, sagte Julia und setzte sich plötzlich kerzengerade auf. Sie stellte ihren Teller ab. »Oder zumindest fast.« Sie blätterte in den Tagebüchern, offenbar auf der Suche nach einer bestimmten Stelle. »Ah«, sagte sie und klopfte mit dem Finger auf eine Seite. »Da ist es ja. Kurz nach Roses achtzehntem Geburtstag, vor ihrer Reise nach New York, wo sie Nathaniel kennengelernt hat.« Julia setzte sich eine Brille mit türkisfarbenem Perlmuttgestell auf die Nasenspitze und las laut vor.
21. April 1906. Was für ein Tag! Und als er anfing, dachte ich, ich würde wieder endlose Stunden im Haus verbringen müssen! (Nachdem Dr. Matthews erwähnt hat, dass im Dorf ein paar Leute einen Schnupfen haben, macht Mama sich verrückt vor Angst, ich könnte mich erkälten und die für nächstes Wochenende geplante Landpartie gefährden.) Aber wie immer hatte Eliza eine bessere Idee. Kaum war Mama in ihrer Kutsche zu Lady Phillimores Lunchparty aufgebrochen, da erschien sie auch schon mit glühenden Wangen in meinem Zimmer (Gott, wie ich sie um die viele Zeit beneide, die sie im Freien
verbringt!) und bestand darauf, dass ich mein Heft weglegte (denn ich war gerade dabei, deine Seiten zu füllen, liebes Tagebuch) und mit ihr einen Spaziergang durchs Labyrinth machte. Sie wollte mir unbedingt etwas zeigen.
Zuerst wollte ich ablehnen - ich fürchtete, jemand vom Dienstpersonal könnte mich bei Mama verpetzen, und ich streite mich so ungern mit ihr, erst recht nicht so kurz vor unserer Reise nach New York - aber dann ist mir aufgefallen, dass Eliza wieder diesen »Blick« hatte, den sie jedes Mal bekommt, wenn sie einen Plan ausgeheckt hat und keinen Widerspruch duldet, den »Blick«, der mich in den vergangenen sechs Jahren häufiger in Schwierigkeiten gebracht hat, als mir lieb ist …
Meine liebe Cousine war so aufgeregt, dass es mir unmöglich war, mich von ihrer Begeisterung nicht anstecken zu lassen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie genug Tatendrang für uns beide zusammen besitzt, was andererseits ein Glück ist, da ich so häufig krank bin. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte sie mich untergehakt, und wir liefen kichernd aus dem Haus. Davies wartete schon auf uns am Eingang zum Labyrinth. Er schleppte einen riesigen Topf mit einer Pflanze darin, und Eliza lief immer wieder zurück, um ihm ihre Hilfe anzubieten, die er jedes Mal ablehnte, woraufhin sie wieder zu mir zurückgeeilt kam, meine Hand nahm und mich weiterzog. So ging es den ganzen Weg durch das Labyrinth (in dem Eliza sich inzwischen auskennt wie in ihrer Westentasche), vorbei an der kleinen Sitzecke in der Mitte, an dem Messingring, von dem Eliza behauptet, er würde zu dem schauderhaften, düsteren Hohlweg führen, bis wir schließlich vor einem eisernen Tor mit einem Messingschloss standen. Mit einer theatralischen Geste zog Eliza einen Schlüssel aus ihrer Rocktasche, und ehe ich dazu kam, sie zu fragen, wo in aller Welt sie ihn gefunden hatte, hatte sie ihn schon ins Schloss gesteckt. Sie drehte den Schlüssel um, und langsam öffnete sich das Tor.
Hinter dem Tor befand sich ein Garten. Er war auf den ersten Blick ähnlich wie die anderen Gärten auf dem Anwesen, und doch so
ganz anders. Erstens war er rundum von einer hohen Steinmauer umgeben, in der sich zwei einander gegenüberliegende eiserne Tore befanden -
»Es gibt also noch ein Tor«, unterbrach sie Cassandra. »Ich habe es gar nicht gesehen.«
Julia schaute sie über ihre Brille hinweg an. »Etwa 1912 oder 1913 wurden Renovierungsarbeiten durchgeführt. Zum Beispiel wurde eine der vier Steinmauern erneuert. Vielleicht hat man dabei das Tor entfernt? Warten Sie. Hören Sie sich das an.«
Der Garten war sehr ordentlich gepflegt und nur spärlich bepflanzt. Er wirkte ein bisschen wie ein Brachfeld, das nach dem Winter darauf wartet, wieder bestellt zu werden. In der Mitte stand neben einer steinernen Vogeltränke eine reich verzierte schmiedeeiserne Gartenbank, und daneben waren mehrere Holzkisten aufgereiht, die Töpfe mit kleinen Pflanzen enthielten.
Eliza rannte wild herum wie ein
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