Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Es war einfach so gnadenlos. Die Patienten, die Angehörigen, all das Leid. Anfangs dachte ich, ich könnte damit umgehen, aber es wurde immer schlimmer.«
Cassandra musste an Nells letzte Tage denken, an den scheußlichen Krankenhausgeruch, die kahlen, trostlosen Wände.
»Ich war der Aufgabe nie gewachsen. Eigentlich ist mir das schon während des Studiums klar geworden.«
»Haben Sie nie überlegt, Ihr Studienfach zu wechseln?«
»Ich wollte meine Mutter nicht enttäuschen.«
»Wollte sie denn unbedingt, dass Sie Arzt werden?«
»Das weiß ich nicht.« Ihre Blicke begegneten sich. »Sie ist gestorben, als ich noch klein war.«
Cassandra verstand. »Krebs.« Begriff jetzt auch, warum er die Vergangenheit so gern hinter sich lassen wollte. »Das tut mir leid, Christian.«
Er nickte und schaute nach oben, als ein schwarzer Vogel über sie hinwegflog. »Sieht nach schlechtem Wetter aus. Wenn die Krähen solche Sturzflüge machen, gibt es bald Regen.« Er lächelte verlegen, wie um sich für den abrupten Themenwechsel zu entschuldigen. »Unsere Bauernregeln sind wesentlich zuverlässiger als die Meteorologie.«
Cassandra nahm ihre Harke. »Ich würde sagen, wir arbeiten noch eine halbe Stunde, dann machen wir Feierabend.«
Plötzlich senkte Christian den Blick und trat mit der Fußspitze nach einem Erdklumpen. »Ich wollte auf dem Heimweg noch auf ein Bier in den Pub gehen.« Er sah sie schüchtern an. »Ich dachte … Ich meine, hätten Sie vielleicht Lust, mitzukommen?«
»Sicher«, hörte sie sich sagen. »Warum nicht?«
Christian lächelte und er schien sich zu entspannen. »Großartig.«
Ein Windstoß brachte feuchte, salzige Luft mit sich und ließ ein großes Ahornblatt auf Cassandras Kopf landen. Sie schlug es fort und wandte sich wieder ihrem Farnbeet zu, hieb ihre Harke in den Boden und kämpfte mit einer langen, dünnen Wurzel. Und lächelte in sich hinein, ohne recht zu wissen, warum.
Im Pub hatte eine Band gespielt, deshalb waren sie länger geblieben und hatten sich etwas zu essen bestellt. Christian erzählte selbstironisch davon, wie es war, wieder mit seinem Vater und seiner Stiefmutter zusammenzuleben, und Cassandra beschrieb einige von Nells Schrullen: dass sie sich geweigert hatte, einen Kartoffelschäler zu benutzen, weil man damit die Kartoffeln nicht so dünn schälen konnte wie mit einem Messer, dass sie die Angewohnheit hatte, die Katzen anderer Leute zu adoptieren, und dass sie Cassandras Weisheitszähne in Silber einfassen ließ und dann an einer Halskette trug. Christian hatte herzhaft gelacht, und sie war spontan eingefallen.
Als er sie schließlich vor dem Hotel absetzte, war es schon dunkel und so neblig, dass seine Scheinwerfer gelb schimmerten.
»Danke«, sagte Cassandra und stieg aus dem Wagen. »Das hat Spaß gemacht.« Es stimmte. Sie hatte sich amüsiert und wohlgefühlt. Ihre Geister waren zwar wie immer bei ihr gewesen, aber nicht ganz so nah wie sonst.
»Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind.«
»Ich auch.« Cassandra lächelte ihn an, dann schlug sie die Tür zu. Winkte ihm nach, als das Auto im Nebel verschwand.
»Jemand hat für Sie angerufen«, sagte Samantha und wedelte mit einem Zettel, als Cassandra die Eingangshalle betrat. »Waren Sie aus?«
»Ja, im Pub.« Ohne Samanthas hochgezogene Brauen zu beachten, nahm Cassandra den Zettel entgegen.
Anruf von Ruby Davies, stand darauf. Komme am Montag nach Cornwall. Habe im Hotel Blackhurst ein Zimmer gebucht. Erwarte Erfolgsbericht!
Cassandra wurde ganz warm ums Herz. Sie würde Ruby das Haus und die Tagebücher und den geheimen Garten zeigen. Ruby würde verstehen, was ihr all dies bedeutete. Und Christian würde ihr auch gefallen.
»Jemand hat sie hergefahren, was? Sah aus wie der Wagen von Christian Blake.«
»Danke für die Nachricht«, sagte Cassandra lächelnd.
»Genau konnte ich es natürlich nicht erkennen«, rief Samantha ihr nach, als sie die Treppe hochging. »Ich habe ja schließlich nicht auf der Lauer gelegen.«
Cassandra ging auf ihr Zimmer, ließ sich ein heißes Bad einlaufen und gab etwas von dem Lavendelbadesalz zu, das Julia ihr gegen ihren Muskelkater besorgt hatte. Dann breitete sie ein trockenes Handtuch auf dem Boden neben der Wanne aus und legte die Tagebücher darauf. Vorsichtig darauf bedacht, sich die Hände nicht nass zu machen, damit sie die Seiten umblättern konnte, ließ sie sich ins heiße Wasser gleiten und stieß einen wohligen Seufzer aus. Dann lehnte
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